Am 22. Mai findet der zweite Schweizer Vorlesetag statt. Er will vermitteln, dass Vorlesen verbindet und Kindern hilft, sich zu entwickeln. Ein Hausbesuch bei Opa Eugen Hodapp und seinen Enkelkindern Joni und Selina.
Vorlesen? Das gab es noch nicht, als Eugen Hodapp in den 1940er-Jahren im Schwarzwald aufwuchs. Seine Eltern mussten den ganzen Tag arbeiten. Einzig seine Grossmutter erzählte ihm hie und da Geschichten aus ihrem Leben und der Bibel und betete mit ihm. «Das hat mir als Kind viel bedeutet.»
Dass er heute mit 75 Jahren ein begeisterter «Vorleser» ist, hat auch mit seiner schwierigen Kindheit zu tun. Weil er an starkem Asthma litt, oft nach Luft rang und kaum spielen oder mitarbeiten durfte, war er oft alleine. Dann entdeckte er die Geschichten von Tarzan. «Zu fantasieren, wie ich mich frei und stark im Urwald bewegen kann, hat mir geholfen, die Situation auszuhalten», sagt er. Später wurde er Pädagoge und Therapeut an der Hochgebirgsklinik Davos.
Er sei immer noch stark von seiner Fantasie geprägt, bekräftigt Eugen Hodapp. Schon seinen beiden Kindern las er oft vor, seine Frau ebenso. Fasziniert verfolgt er heute, was die Abenteuer, die er seinen Enkelkindern vorliest, auslösen. Wie sie ihre «innere Welt», wie er es nennt, auch dank der Geschichten bewältigen können. «Nicht zufällig geht es in der Handlung meist darum, Lösungen zu finden.»
Jeden Donnerstag hütet er im aargauischen Nussbaumen seine beiden Enkelkinder Joni (knapp 5) und Selina (2). Als er Joni auf dem Sofa aus dessen neuem Wickie-Buch vorliest, erzählt er, wie die bösen Graumänner einen Überfall planen. Joni kommentiert: «Und es geht immer nie!» Ganz der Pädagoge, ergänzt Eugen Hodapp, dass die Graumänner dafür ein hölzernes Pferd bauen – «wie die Griechen bei Troja». Joni entgegnet: «Nein, das sind Wickie und die Graumänner!»
Für Barbara Jakob zeigt dieses Beispiel, was Vorlesen im Idealfall sein kann: ein Dialog. Die Fachreferentin beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) erklärt, dass ein Kind durch das Gespräch die Geschichte verarbeiten könne. Im Fachjargon wird dies dialogisches Lesen genannt. Bereits ein Blickkontakt oder eine Geste könne eine Form von Dialog sein. Oder man frage, wie die Geschichte weitergehen könnte. Auch die Auswahl der Geschichte sollte gemeinsam erfolgen, rät Barbara Jakob.
Mittlerweile liest Eugen Hodapp, zwischen seinen Enkeln sitzend, doppelt vor. Abwechselnd erzählt oder beschreibt er Selina etwas aus «Dein erstes Wörterbuch: die Tiere», bevor er sich wieder Joni und den starken Männern zuwendet. Figuren, die kämpfen und stark sind, sind für ihn wichtig, erklärt Eugen Hodapp. «Im ausgeglichenen Zustand will er Yakari sein, nach einem Streit Wickie.» Seine zärtliche Seite zeigt er im Umgang mit seinen fünf Monate alten Zwillingsschwestern. Selina verliert sich gerne in Wimmel- und Bilderbüchern.
«Vorlesen verbessert die Bildungschancen von Kindern wesentlich», schreibt das SIKJM auf seinem InfoBlatt zum zweiten Schweizer Vorlesetag. Mit verschiedenen Aktionen möchten die Initianten dabei zum Vorlesen animieren. Schliesslich fördert es den Wortschatz, die Fantasie, die Empathie, das Vorstellungsvermögen – und die Kinder lernen schneller lesen.
Es ist unschwer zu erkennen, wie rasch Selina und Joni von der Welt ihrer Bücher in den Bann gezogen werden. «Die Kinder saugen das richtig auf», sagt ihr Grossvater. «Ich war verblüfft, dass Joni sich aus ‹Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer› schon mit vier Jahren alles merken konnte.» Vorlesen hat für ihn auch viel mit Zuneigung zu tun. «Zudem interessieren mich die Geschichten und die Erzählweise selbst sehr!»
Barbara Jakob führt aus, dass ein Kind beim Vorlesen auf vielen Ebenen positiv beeinflusst wird. Um zu lernen, brauche ein Mensch positive Situationen, sagt sie. Und eine Bezugsperson. «Aus der Psychologie weiss man, dass eine Entwicklung nur durch Bindung und Beziehungen möglich ist.» Vorlesen vermittle immer auch die Botschaft: Da nimmt sich jemand Zeit für mich. Doch was, wenn das Kind sich zum 50. Mal dieselbe Geschichte wünscht? «Das muss man unbedingt zulassen», so die Expertin, «damit das Kind die Handlung innerlich abschliessen kann.» Das sei ein wichtiger Prozess.
Infos zum Schweizer Vorlesetag