Wo Schuhe die Welt bedeuten
Emmy Varone-Müller gehörte zu den «Ballyanern». Bis heute lebt die Urgrossmutter in Schönenwerd SO, wo auch die berühmten Schuhe herkommen.
Elsi, Ernst, Hanni, Greti, Lüssi, Emmy, Ruth, Paula, Rosmarie: Neun Kinder waren wir daheim, ein Bub und acht Mädchen. Heute leben noch meine jüngste Schwester und ich. Das Foto von 1935 zeigt mich als 7-Jährige mit Ruth und Rosmarie in unserem Garten in Gösgen. Mit meinen 92 Jahren denke ich oft und gerne an unsere schöne Kindheit zurück.

Die Tafel Schokolade, welche die Mutter jeweils am Samstag kaufte, war unser grösster Luxus. Jedes Kind erhielt zwei Täfelchen. Auch die Kleider der Älteren trugen wir Jüngeren selbstverständlich nach – sogar in meinem Hochzeitskleid hatten vor mir schon zwei meiner Schwestern geheiratet.
«Passt auf, dass ihr nicht in den Dreck fallt und heiraten müsst», warnte unsere Mutter, wenn sich ein junger Mann für uns interessierte. Mehr Aufklärung erhielten wir nicht. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Heiraten «mussten» später vier von uns, eine Schwester zum Missfallen meiner Eltern sogar einen Reformierten …
Nach acht Jahren Primarschule fing ich als «Ballyanerin» in der Schuhfabrik an. Gearbeitet wurde von 7 bis 17 Uhr für ein «Löhnli» von 25 bis 30 Franken für zwei Wochen. Damals gab es genug Arbeit für alle, in unserer Gegend suchten viele bekannte Firmen wie Bally, Nabholz, Kern, Möbel Pfister oder Oetker Arbeitskräfte.
Auch mein Mann, ein Walliser, war Ballyaner bis zu seiner Pensionierung. Früher galten Welsche und Tessiner quasi als «Ausländer», die man in der Deutschschweiz hänselte und plagte. Für mich war René der beste Mann, den es gibt. Seit seinem Tod vor zwanzig Jahren rede ich jeden Abend mit ihm und meiner Tochter, die leider bereits mit 48 Jahren verstarb.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger