Geliebte Grossmutter

Theres Bütler aus Rothenburg LU wuchs mit acht Geschwistern auf einem Bauernhof auf. An ihre Grossmutter erinnert sie sich gern.

In unserer grossen Familie lebte auch meine Grossmutter, die Mutter meines Vaters. Sie war eine verständnisvolle, grosszü­gige Frau, die ich sehr gern hat­te. Beim Gemüserüsten oder Kirschen­entsteinen erzählte sie uns von früher oder vermittelte uns – streng katholisch –, was sie für richtig oder falsch hielt. «Mädchen pfeifen nicht», sagte sie et­wa, «sonst weint die Mutter Gottes im Himmel.»

Schwarzweiss-Foto von 1950: Grossmutter von Therese Bütler mit ihren sechs erwachsenen Kindern.
© zVg

Das Foto von circa 1950 zeigt sie mit ihren erwachsenen Kindern, wahr­scheinlich anlässlich eines Besuchs mei­ner Tante aus Amerika. Die Tante ist die elegante Erscheinung ganz links, mein Vater der zweite von rechts. Meine Grossmutter trägt ihr schwarzes Seiden­kleid mit Spitzenbesatz, ihr Hochzeits­kleid. Sie trug es auch täglich zur Früh­messe, bis sie mit etwa fünfzig Jahren nach dem frühen Tod meines Grossva­ters einen Hirnschlag erlitt und später bettlägrig wurde.

Trotz ihrer Behinderung hörte ich meine Grossmutter nie klagen. Damit sie weiter am Familienleben teilhaben konnte und es in ihrem Zimmer über unserer Stube schön warm hatte, sägte mein Vater oberhalb des Ofens ein Loch in die Decke. Wir Kinder sassen oft bei ihr am Bett und halfen ganz selbstver­ständlich bei ihrer Pflege mit. Eine Spi­tex gab es ja damals noch nicht. Dafür brachte der Pfarrer jeden Morgen die heilige Kommunion vorbei.

Als Kind musste ich daheim viel an­packen, genoss aber auch Freiheiten, wie sie meine eigenen Kinder später nicht mehr erlebten. Ich bin froh um die starken Wurzeln, die ich aus der Kind­heit mitnehmen durfte. Auch der Satz aus meinem Lieblingslied, der mir in meinem Leben oft Kraft gab, stammt von früher aus der Schulzeit: Die Ge­danken sind frei!

Aufgezeichnet von Annegret Honegger

Beitrag vom 07.09.2020