Was Uschi Waser als Mündel des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» erlitt, prägt ihr Leben bis heute. Sie engagiert sich gegen das Vergessen und für alle, die nicht für sich selbst sprechen können.
Text: Annegret Honegger Fotos: Roland Tännler
Wenn Uschi Waser von ihrer Kindheit erzählt, zieht sie ein Geschichtsbuch aus dem Regal. Dank der Arbeit einer Historikerin weiss sie genau, was geschah, als das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» sie von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, von Kinderheim zu Erziehungsanstalt «verschob wie ein Stück Dreck». 26 Stationen in neun Kantonen waren es in ihren ersten 13 Lebensjahren.
«Wenn ich leben muss, schweige ich nicht länger.»
«Gleich doppelt als Mensch zweiter Klasse» galt sie, weil sie im Dezember 1952 als uneheliches Kind einer jenischen Mutter zur Welt kam. Die Lebensweise der Jenischen, damals Vaganten oder Zigeuner genannt, hielt man für minderwertig. Deshalb nahm die Aktion «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute jenischen Eltern ihre Kinder weg – ganz egal, ob sie in einem Wohnwagen lebten oder in einer Wohnung wie Uschi Waser.
Jenische Kinder galten aufgrund ihres «Vagantenblutes» als hoffnungslos dumm, schwer erziehbar, faul, verlogen und sexuell triebhaft. Pflegefamilien sollten sie zu «rechtschaffenen» Bürgerinnen und Bürgern erziehen. Doch da sich kaum Familien fanden, landeten die Kinder meist in Heimen und Erziehungsanstalten.
Gewalt ist Alltag
Was ihnen dort blühte, zeigt Uschi Wasers Geschichte. «Gewalt war für uns Alltag,» erinnert sich die heute 72-Jährige. Die Heime konnten schalten und walten, wie sie wollten – Hauptsache, sie kosteten die Steuerzahlenden wenig Geld. Kontrollen gab es kaum, Misshandlungen umso mehr. «Feckerin» riefen die Kinder Uschi Waser nach. So erfuhr sie überhaupt erst von ihrer Herkunft.
Schon als kleines Mädchen lernte sie, alles über sich ergehen zu lassen. Weh taten die Schläge trotzdem. Nie wusste sie, ob sie am nächsten Tag anderswo untergebracht würde, eine neue Schule besuchen und sich an neue Menschen gewöhnen musste. Wer sich wehrte, wurde noch mehr geschlagen. Wer widersprach, der Lüge bezichtigt. Wer floh, hart bestraft.
Hat sich nie jemand für sie eingesetzt? Von all den «Fachleuten», die sie betreuten und begutachteten? Uschi Waser schüttelt den Kopf. Auch nicht, als ihr Stiefvater sie immer wieder missbrauchte. Oder als ihr Onkel sie in der Nacht auf ihren 14. Geburtstag vergewaltigte. Die Jugendliche landete in einer von Nonnen geführten Erziehungsanstalt «für gefallene Mädchen». Dort entliess man sie mit 18 Jahren von einem Tag auf den anderen – völlig unvorbereitet auf ein selbstständiges Leben.
Als Kind gab Uschi Waser ihrer Mutter die Schuld an ihrer Lage. Später erfuhr sie, dass diese selbst den Eltern entrissen worden war und ohne Wurzeln aufwachsen musste. Doch erst 1989, bei der Lektüre ihrer 3500 Seiten dicken Akte aus dem Archiv, verstand Uschi Waser, dass sie nicht Opfer einzelner Personen war, sondern eines ganzen Systems.
Stundenlang blätterte sie sich durch Berichte voller Vorurteile und Verachtung. Schlimmer, dachte sie, könne es nicht mehr kommen. Bis zu jener Nacht, in der sie die Gerichtsakten ihrer Prozesse gegen Stiefvater und Onkel las. Noch heute stockt ihr die Stimme, wenn sie vom Unrecht redet, das ihr da schwarz auf weiss entgegenstarrte. Wie ihr Betreuerinnen und Lehrpersonen in den Rücken fielen. Wie sich ihre Mutter auf die Seite der Täter schlug. Wie Behörden, Justiz und Kirche zusammenspannten: «Das zog mir den Boden unter den Füssen weg.»
In dieser Nacht verlor Uschi Waser den letzten Rest Selbstvertrauen. Den Stolz auf das kleine Glück, das sie für sich und ihre zwei Töchter erkämpft hatte, indem sie «funktionierte wie ein Maschineli», ganz ohne Geld vom Staat. Und auch das verlor sie: «Den Glauben an die Schweiz.» Es war, als hätte man ihr das Herz bei lebendigem Leib herausgerissen. Wochenlang wusste sie nicht, ob sie weiterleben konnte mit diesen Sätzen, die sie schwerer trafen als Schläge. «Wenn ich leben muss», beschloss sie,» schweige ich nicht länger.»
Gegen das Vergessen
Seither engagiert sich Uschi Waser gegen das Vergessen, für Aufarbeitung und Anerkennung. Sie tritt als Zeitzeugin in den Medien auf, erzählt ihre Geschichte für Ausstellungen und für die Wissenschaft. Immer noch kommen ihr dabei die Tränen, obwohl sie längst nicht mehr weinen möchte. Die Täter, findet sie, hätten keine Tränen verdient. Und: «Ich will nicht, dass die Leute mit mir weinen. Ich will, dass sie handeln.»
Seit das «Hilfswerk» 1973 seine Tätigkeit einstellte, haben jenische Organisationen vieles erstritten. Ein Meilenstein war die Anerkennung der systematischen Verfolgung als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» Anfang Jahr. Manche sagen, es gehe gar um Völkermord. Andere hingegen wollen die Vergangenheit endlich ruhen lassen.
«Selbstbestimmt zu sterben, ist mein grösster Wunsch.»
Nicht so Uschi Waser. Sie fordert, dass auch die Gerichtsfälle zum Thema Missbrauch von anno dazumal aufgearbeitet werden. Dass diese dunklen Kapitel Teil der Geschichts- und Schulbücher werden. Denn: «Noch immer denken viel zu viele Leute, dass so etwas in fernen Ländern passierte, aber sicher nicht in der Schweiz.» So etwas wie Kindesentführung, Zwangsumerziehung, Zwangsadoption, Zwangssterilisation, Zwangseinweisung in Kliniken oder Strafanstalten.
Folgen bis heute
Bis heute leiden die Opfer unter gesundheitlichen und psychischen Folgen. Leben mangels Ausbildung mit minimalen Renten. Lernen ihre Familie erst kennen, wenn es bereits zu spät ist, um das zerrissene Band wieder zu knüpfen. Und sie fürchten sich vor dem Alter. «Wieder in ein Heim zu müssen, ist für mich und viele Betroffene eine Horrorvorstellung», sagt Uschi Waser. Sie hofft, dass ihr das Leben wenigstens am Ende gnädig ist: «Selbstbestimmt zu sterben, ist mein grösster Wunsch.»
Noch aber lebt die klein gewachsene Frau, in der eine so grosse Kraft steckt. Geniesst es, mit Hündchen Gini, das sie liebevoll «meinen kleinen Kampfhund» nennt, durch die Natur zu streifen. Ist dankbar für das Glück einer langjährigen Partnerschaft. Stolz auf ihre Töchter und die vier Enkelkinder. «Solange ich kann», sagt sie, «kämpfe ich weiter.»
Von 1926 bis 1973 nahm die Stiftung Pro Juventute etwa 600 jenische «Kinder der Landstrasse» ihren Eltern weg, um sie zur Sesshaftigkeit zu erziehen – ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit», zeigt ein neues Gutachten. Insgesamt wird die Zahl der von Behörden und Hilfswerken Fremdplatzierten auf 1500 geschätzt. Heute anerkennt die Schweiz die rund 40 000 Jenischen und Sinti – fahrend oder sesshaft – als nationale Minderheit.
Uschi Waser ist Präsidentin der «Stiftung Naschet-Jenische», die sich für Aufarbeitung und Vermittlung einsetzt.
Beratung für Betroffene bietet die Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende»: Telefon 031 552 13 14, Mail jan.amstutz@stiftung-fahrende.ch
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen
Von Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen durch Behörden waren in der Schweiz bis in die 1980er- Jahre mehrere Hunderttausend Menschen betroffen.
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