Wie erlebt eine Enkelin die Demenzerkrankung ihrer Grosseltern? Die 25-jährige Amanda Wettstein hat darüber ein berührendes und zutiefst lebensbejahendes Buch geschrieben.
Text: Claudia Senn
Ihr Grossvater Peter sei «eine mega Erscheinung» gewesen, sagt Amanda Wettstein. Gross, stark, breit gebaut und aufrecht bis ins hohe Alter. Er sagte, wenn ihm etwas nicht passte, und lachte nicht, wenn etwas nicht lustig war. Sein Humor war legendär, selbst in kniffligen Momenten. Einmal verfing sich beim Fischen der Angelhaken im Daumen von Amandas Bruder Tim und riss ihn beinahe in Stücke. «Super, das lieben die Fische!», sagte Peter mit gespielter Begeisterung, «vielleicht locken wir mit dem Blut sogar ein paar Haie an.» Tim vergass vor lauter Lachen sofort das Weinen.
Die KV-Angestellte Amanda Wettstein, 25 Jahre alt, blond, sensibel, mit Schalk im Gesicht, kann viele solche Geschichten erzählen. Auch von ihrer Grossmutter Greti, Peters Frau, die ihr beibrachte, im Leben alles mit Liebe zu betrachten. Und von ihrer anderen Grossmutter, Grand Maman Mariette, die ihr eine gute Portion ihres welschen Charmes vererbte. Allen dreien hat sie ihr Buch «Peter und Greti» gewidmet. Es ist eine Liebeserklärung an die verstorbenen Grosseltern und ein Plädoyer für einen empathischeren, zärtlicheren Umgang mit Demenz.
Gretis Geist driftet ab
Dass Gretis Geist allmählich in eine andere Welt abdriftete, bemerkte Amanda Wettstein, als ihre Grossmutter beinahe vorwurfsvoll zu ihr sagte, sie hätten sich nun aber wirklich schon lange nicht mehr gesehen. Dabei hatte ihre Enkelin sie erst wenige Tage zuvor besucht. Bei Grand Maman Mariette fiel ihr hingegen lange nichts auf, weil Mariette ihre Verwirrtheit um jeden Preis zu verbergen suchte. Dann sah Amanda die Post-its in deren Haus. «Sogar auf den Kühlschrank hatte sie einen Zettel mit dem Wort ‹Kühlschrank› geklebt.» Bald zogen beide Grossmütter ins selbe Heim im bernischen Laupen. Es ging nicht mehr anders. Peter, für den es ganz und gar unvorstellbar war, seine Greti allein zu lassen, ging mit.
Amanda Wettstein machte sich Sorgen, als sie sah, wie es mit ihren Grossmüttern bergab ging. Würden sie bald nur noch eine Hülle ihrer selbst sein? Im Pflegeheim beobachtete sie, dass manche Besucherinnen und Besucher wenig Geduld für ihre dementen Angehörigen aufbrachten und sich für deren verwirrtes Gestammel fortwährend entschuldigten, als würden sie sich dafür schämen. Sie selbst beschloss, es anders anzugehen.
Besuchen alleine reicht nicht
Als Greti behauptete, sie habe den aufwendigen Quilt, den sie in liebevoller Handarbeit selbst genäht hatte, «in der Ikea gekauft», meinte Amanda: «Dann gibt es bei Ikea ja inzwischen ein erstklassiges Sortiment.» Als Greti einen Schal strickte und überzeugt war, es werde ein Regenschirm, sagte Amanda: «Ein toller Regenschirm. Viel kreativer als die gewöhnlichen.» Und als Greti ankündigte, im vierten Monat schwanger zu sein, das Bébé komme bald, sagte Amanda: «Ich bin auch schwanger, dann können wir die Kleinen ja zusammen in die Kita schicken. Was ist dir bei der Erziehung besonders wichtig?» So blieb sie mit Greti im Gespräch.
Demente bräuchten eine geschützte Umgebung, in der sie so sein könnten, wie sie sind, sagt Amanda Wettstein. Wenn man sie ständig zurechtweise, würden sie bloss verstummen. Als Mariette das Sprechen immer mehr verlernte und durch eine Augenkrankheit erblindete, sang Amanda mit ihr Lieder oder gab ihr ein Plüschtier zum Betasten in die Hände. Besuchen alleine reiche nicht, sagt sie, man müsse mit den dementen Angehörigen auch interagieren, ihren Geist fordern, Gefühle zeigen. «Hauptsache, man macht etwas zusammen.»
2016 starb Greti, Peter ein Jahr darauf, Mariette im vergangenen Jahr. Amanda war lange Zeit untröstlich. Dann wurde ihr Vater sechzig, und Amanda wollte ihm etwas Grosses schenken, etwas wirklich Wichtiges. Sie nahm sich zwei Monate frei und schrieb wie eine sture Beamtin jeden Tag von acht Uhr morgens bis fünf Uhr abends alles nieder: die guten Momente mit ihren Grosseltern und die traurigen, die Liebe und die Dankbarkeit, die sie empfand, die absurden Momente der Komik, die die Demenz mit sich brachte, die Angst und die Selbstbehauptung trotz allem. Manchmal weinte sie dabei so sehr, dass sie die Zeilen kaum noch erkennen konnte. Doch am Ende schaffte sie, was sie sich vorgenommen hatte: ein Denkmal aus Worten zu bauen für ihre unvergleichlichen, geliebten Grosseltern.
Amanda Wettstein: «Peter und Greti – Eine Enkelin erzählt». Lokwort-Verlag 2022. Ca. 30 Franken. lokwort.ch
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