Seit mehr als zwei Jahrzehnten politisiert sie im Bündner Grossen Rat, letztes Jahr wurde sie als Gemeindepräsidentin von San Vittore GR wiedergewählt. Für Nicoletta Noi-Togni ist ein politisches Engagement keine Frage des Alters.
Von Usch Vollenwyder
Sie sei noch drei Monate jünger als Nancy Pelosi, lacht Nicoletta Noi-Togni. Wie die bald 81-jährige Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses strahlt auch die Gemeindepräsidentin von San Vittore Energie, Beharrlichkeit und Lust am Politisieren aus. Das Alter ist für die parteilose «Sindaca» kein Thema – weder als Politikerin noch als sie mit über siebzig an der Theologischen Fakultät in Lugano Philosophie studierte. Zurzeit stellt sie ihre Masterarbeit über die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch fertig: «Das Alter ist nur eine Zahl.»
Seit 1987 gehört Nicolette Noi-Togni mit einem Unterbruch von sechs Jahren dem Bündner Kantonsparlament an. Zu Beginn der letzten Legislaturperiode eröffnete sie als amtierende Alterspräsidentin die Session. In ihrer Rede zitierte sie den Philosophen Martin Heidegger: «Wir sind ungefragt in die Welt geworfen worden.» Für die Misoxerin ist es ein Privileg, in einer freien Gesellschaft wie in der Schweiz leben zu dürfen: «Dieses Privileg verpflichtet zu Verantwortung und gemeinsamer Sorge für das Land und füreinander.» Davon seien auch Seniorinnen und Senioren nicht ausgeschlossen: «Sie müssen sich aktiv einbringen in eine Gesellschaft, die suggeriert, dass der Wert eines Menschen mit dem Alter sinkt.»
Selber sei sie erst 1984 politisch wach geworden, erzählt die Mutter zweier Söhne und dreifache Grossmutter. Die ausgebildete Pflegefachfrau, Hebamme und Dozentin für Krankenpflege machte Missstände im Frauenspital in Chur öffentlich – und verlor ihre Arbeitsstelle. Für die engagierte Berufsfrau brach eine Welt zusammen, doch sie entdeckte auch ihre Kämpfernatur. Sie fand sofort eine neue Stelle an der damaligen Schwesternschule in Ilanz und begann, sich politisch zu engagieren. Als sie 1987 ins Bündner Parlament gewählt wurde, wusste sie: «Das ist meine Welt. Ich bin angekommen.»
Viele Erfolge kann sie für sich verbuchen, sie erlebte aber auch politische Rückschläge und eckt mit ihrer direkten Art manches Mal an. Doch beharrlich folgt sie ihren Überzeugungen, bis heute engagiert sie sich für benachteiligte Gruppen und Minderheiten: für die Gleichstellung von Mann und Frau und für mehr Frauen in politischen Ämtern, für die Interessen des italienisch sprechenden Teils des Bündnerlands, für die Arbeitssituation von Pflegenden, für die alten Menschen.
Sie ist dem Leben dankbar, das ihr diese Möglichkeiten gibt. Ihre Kindheit verbrachte Nicoletta Noi-Togni in einer bekannten Politikerfamilie in San Vittore – «als verwöhntes, geliebtes Mädchen», erinnert sie sich. Sie hatte zwei ältere Brüder und eine sechs Jahre ältere Schwester, die noch vor ihrer Geburt gestorben war. Wieder und wieder hörte sie ihre Geschichte: Wie das kleine Mädchen mit seiner übersinnlichen Wahrnehmung der Mutter gesagt habe, dass es heute mit einem Auto in den Himmel fahren werde. Aber Mama und Papa sollten nicht traurig sein, es käme noch ein Schwesterchen auf die Welt. Das müsse Nicoletta heissen. Am gleichen Tag wurde die Kleine von einem Auto überfahren. In der Hand hielt sie ein Sträusschen Vergissmeinnicht.
Aus der Arbeit Kraft schöpfen
Diese Geschichte begleitet Nicoletta Noi-Togni durch ihr Leben. Sie hat sie geprägt und gibt ihr Vertrauen: «Ich glaube, dass ich einen bestimmten Weg zu gehen habe und dabei geführt werde. Meine Erfahrungen bestätigen diese Überzeugung.» Nach über drei Jahrzehnten in Chur zog sie nach dem Tod ihrer Mutter 1997 in ihr Heimatdorf zurück. Sie teilte den Alltag mit ihrem betreuungsbedürftigen Mann und unterstützte ihn bis zu seinem Tod 2005. Nachdem sie zunächst den Kreis Chur im Grossen Rat vertreten hatte, ist sie seit über zwanzig Jahren Vertreterin des Kreises Roveredo – als eine von nur 27 Frauen im 120-köpfigen Kantonsparlament.
2021 begann ihre zweite Amtsperiode als «Sindaca» ihres Dorfs mit knapp 1000 Seelen. Das sei eine schwierige Aufgabe, bekennt sie. Zu schaffen mache ihr nicht die Arbeit, sondern die Unzufriedenheit vieler Leute. Bei jedem Geschäft gebe es Befürworterinnen und Gegner. Dabei hat sie auch schon «La Sindaca è Trump» zu hören bekommen. Sie vertrage keine Ungerechtigkeiten, weder anderen noch sich selber gegenüber: «Je mehr Widerstand ich spüre, umso stärker werde ich», sagt sie. Ihre angefangene Aufgabe führt sie zu Ende.
Kraft und Motivation schöpft Nicoletta Noi aus der Arbeit selber. Sie weiss, dass sie Menschen um sich hat, die für sie durchs Feuer gehen würden. «San Vittore ist kantonsweit die Gemeinde mit der höchsten Zahl an Frauen im Vorstand», freut sie sich. Mit ihren drei Mitstreiterinnen im fünfköpfigen Gemeinderat arbeitet sie gern und eng zusammen. Frauen würden Resultate sehen und Projekte realisieren wollen – oft «schneller und gezielter, als die trägen, von Männern dominierten politischen Strukturen es leider erlauben». ❋
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