Fishel Rabinowicz (99) ist einer letzten Zeitzeugen des Holocaust. Am 11. April 1945 wurde er im Konzentrationslager Buchenwald befreit. In seinem künstlerischen Werk setzt er sich mit der Vergangenheit auseinander.
Text: Usch Vollenwyder, Fotos: Alfio Tommasini
In den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 fielen deutsche Truppen in Polen ein. Fishel Rabinowicz weiss noch, dass es ein Freitag war. Und dass seine Mutter in der Küche stand, um das Essen für den Schabbat vorzubereiten. Er war damals sechzehn Jahre alt, das drittälteste von zehn Geschwistern. Die Eltern führten ein Geschäft für Bettwäsche, in den dazugehörigen Werkstätten nähten Angestellte die Garnituren. Die Familie lebte in der polnischen Stadt Sosnowiec im Dreiländereck zwischen den einstigen Kaiserreichen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland. Fishel Rabinowicz’ Leben veränderte sich an diesem 1. September 1939 für immer.
«Bereits drei Tage später waren die deutschen Truppen in der Stadt, angeführt von Wehrmachtsoldaten auf Motorrädern. Sie besetzten die Hauptstrassen und Verkehrsknotenpunkte. Sie schlugen Scheiben ein, schlossen Geschäfte, plünderten Schaufenster, schnitten Juden auf der Strasse den Bart ab. Dreizehn Menschen wurden auf der Stelle erschossen, etwas über zweitausend auf einem grossen Abstellplatz zusammengetrieben. Nach wenigen Tagen hatten die Deutschen ihre Gesetze etabliert: Ab acht Uhr abends galt ein Ausgehverbot, wir Juden durften uns nicht mehr frei bewegen, die Schule nicht mehr besuchen, und wir wurden gekennzeichnet: Erwachsene und Kinder ab sechs Jahren mussten am rechten Ärmel einen weissen Streifen mit einem aufgenähten blauen Davidstern tragen.
Jüdische Geschäfte – auch unser Bettwarengeschäft – wurden versiegelt und die Ware beschlagnahmt. Ein deutscher Kommissar kam vorbei und nahm uns die Schlüssel ab. Ab sofort hatten wir keinen Zutritt mehr zu unserem Laden. Nur die Wohnung konnten wir vorläufig noch behalten. Immer mehr Menschen wurden aus ihren Häusern weggeholt und verschickt. Ich war der erste aus unserer Familie, der bei einer Razzia gefasst wurde – einfach so, von der Strasse weg. Ein paar hundert Männer und Frauen wurden wir auf zwei grosse Lastwagen gepfercht und in ein Zwangsarbeitslager gefahren. Das geschah am 26. Mai 1941.»
Diszipliniert wie ein Soldat
Die nächsten vier Jahre verbrachte Fishel Rabinowicz in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Eingeteilt in ein Arbeitskommando schuftete er auf dem Bau, an Autobahnen und Eisenbahngeleisen. Schnell habe er gemerkt, dass es zum Überleben die Disziplin eines Soldaten brauche. Zu viele seiner Gefährten – vor allem die Älteren – hätten resigniert. Er hingegen habe sich nach jedem Arbeitstag gewaschen, für ihn das Zeichen, dass er sich nicht aufgeben wollte. Er meint, dass er auch Glück gehabt habe. «Glick» sagt er, der zu Hause in seiner Familie jiddisch gesprochen hatte. «Glick» habe er gehabt, weil die Deutschen ihn mochten.
«Ich war klein, und ich war jung. Irgendwie mochten mich die Deutschen, wahrscheinlich weil ich der Kleinste war. Und weil ich einen feuerroten Haarschopf hatte, «röter als rot», sagte mir ein Wärter. Sie nannten mich nur «Rotkopf» und wiesen mir meist leichtere Arbeiten zu. Ich musste nicht die schweren Loren mit Steinen oder Sand beladen, sondern konnte die Wägelchen schmieren und das Werkzeug putzen. Andere mussten Zement anrühren und schaufeln, oder Steine klopfen für die Bahntrassen. Mir wurde befohlen, Brettverschalungen aufzubauen. Oder mit einem langen Eisenschlüssel die Eisenbahnschienen mit den Schwellen zu verschrauben. Immer drei Schrauben, zwei innen, eine aussen.
Andere Häftlinge beneideten mich um meine bevorzugte Stellung, aber ich wollte überleben. Wenn ich leere Zementsäcke mitlaufen lassen konnte, fabrizierte ich daraus Leibchen: Dazu entfernte ich die mittlere, saubere Schicht aus den dreilagigen Papiersäcken, schnitt ein Loch für den Kopf und zwei für die Arme hinein. Ich gab sie für zwei Schnitten Brot weiter – das war eine halbe Essensration! Es war so bitter kalt, doch diese Papierleibchen wärmten. Man trug sie unter der Arbeitskleidung, die am linken Hosenbein, am Ärmel, auf der Brust und am Rücken mit einem blauen Davidstern oder einem gelben Stern markiert sein musste.
Vier Jahre, genau vier Jahre, verbrachte ich in Arbeits- und Konzentrationslagern. Ich habe in dieser ganzen Zeit keine einzige Träne vergossen. Ich konnte nicht weinen. Ich konnte nicht weinen! Warum, weiss ich nicht, auch wenn ich viel darüber nachgedacht habe: Ich war versteinert. Als ich nach dem Krieg in die Schweiz kam, wollte ich endlich einen Beruf erlernen, selbständig werden und Geld verdienen. Ich wurde Grafiker und Dekorateur, heiratete undgründete eine Familie. Am Tag nach meiner Pensionierung 1989 begann ich, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Schreiben konnte und wollte ich nicht: Dieses Grauen lässt sich nicht beschreiben. Ich machte Bilder. Sie erzählen von der Shoah, von der jüdischen Kultur, von Traditionen, Kabbalistik und Mystik. Das war meine Therapie.»
Kunst gegen das Grauen
Bis zu seinem neunzigsten Geburtstag entstanden insgesamt fünfzig Bilder, fast ununterbrochen arbeitete Fishel Rabinowicz an seinem Werk. Dabei bediente er sich der Kunst des Papierschnitts: Er schnitt geometrische Formen, Figuren und Buchstaben aus einem weissen Blatt heraus und hinterlegte dieses mit schwarzem oder grauem Papier. An die handwerkliche Umsetzung ging er erst, wenn er das Bild genau im Kopf und davon eine Zeichnung gemacht hatte – oft in den vielen schlaflosen Nächten, die ihn bis heute verfolgen.
Sein Werk «Survivor» ist im Schweizerischen Nationalmuseum in Schwyz zu sehen: 21 hebräische Buchstaben sind aus ihrer ursprünglichen Ordnung ins Chaos am unteren Bildrand gefallen, sie symbolisieren die Vernichtung der sechs Millionen jüdischen Männer, Frauen und Kinder zwischen 1933 und 1945. Am oberen rechten Bildrand entzieht sich Aleph, der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, der Zerstörung: ein Überlebender.
«Dieser Einzelne wurde gerettet. Sein Kopf und der Körper ragen über den Bildrand hinaus, doch mit dem Fuss ist er im Chaos steckengeblieben. Seine Geschichte kann er nicht abschütteln. Er nimmt sie mit, wohin auch immer er geht. Er trägt sie mit sich herum, ob er will oder nicht. Sie verfolgt ihn, hängt an ihm, bleibt bei ihm, klebt an ihm. Das ist die Situation eines Überlebenden des Dritten Reiches: Physisch noch erhalten, innerlich aber tief verwundet. Ich habe das erlebt. Ich sah die vielen Toten. Ich war dabei, als man im KZ den Leichen die Zähne aus dem Mund gebrochen hat, um das Gold zu schmelzen. Ich kenne das ganze System, vier Jahre lang war ich in ihm gefangen.»
Im Februar 1945 befreiten sowjetische Truppen das Arbeitslager Kittlitztreben. Am Tag zuvor hatten es die Deutschen geräumt, nur die Schwächsten liessen sie zurück. Für rund 1200 Häftlinge – unter ihnen Fishel Rabinowicz – begann in der Winterkälte ein 325 Kilometer langer Todesmarsch. Nach 55 Tagen kamen noch 746 im KZ Buchenwald an – todkranke, entkräftete, gebrochene Menschen. Die anderen waren am Wegrand liegen geblieben, starben an Erschöpfung oder wurden erschossen. Bei der Befreiung Buchenwalds eine Woche später, am 11. April 1945, wog Fishel Rabinowicz noch 29 Kilo. Die erste Suppe bleibt ihm unvergessen: eine richtig dicke Suppe sei es gewesen, mit Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. So dick, dass der Löffel darin stehen blieb.
«Erst nach dem Krieg habe ich vernommen, was aus meiner Familie geworden ist. Meine Mutter und sechs Geschwister wurden nach Auschwitz deportiert und vernichtet. Ein Bruder starb an Hunger und Erschöpfung im KZ Faulbrück, der Vater wurde einen Monat vor der Befreiung im KZ Flossenbürg erschossen. Zu der Familie meines Vaters und seiner Geschwister gehörten vor dem Krieg 35 Personen. Von diesen 35 Personen haben nur gerade vier den Holocaust überlebt: Meine beiden älteren Brüder, ein Cousin und ich. Vier von 35. Etwas mehr als zehn Prozent. Nur gerade etwas mehr als zehn Prozent.»
Weiterführende Lektüre
Gamaraal Foundation: «The Last Swiss Holocaust Survivors. Porträts von Überlebenden, die in der Schweiz eine neue Heimat gefunden haben.» Stämpfli Verlag Bern, CHF 39.–
Simone Müller: «Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts.» Limmat Verlag Zürich, ca. CHF 38.–
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