«Es liegt an uns, etwas zu verändern»
Die gebürtige St. Gallerin Monika Hauser setzt sich mit ihrer Organisation Medica Mondiale seit über 30 Jahren für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Konfliktgebieten ein. Sich selbst gut zu kennen, sei bei dieser Tätigkeit zentral, sagt die Ärztin und Aktivistin.
Interview: Fabian Rottmeier, Fotos: Stefanie Päffgen
Ihr Weg als Frauenrechtsaktivistin ist gezeichnet von Durchhaltewillen und Unerschrockenheit. Bereits in Ihren Anfängen als Gynäkologin legten Sie sich im Vinschgau mit Pfarrern und Oberärzten an. Waren Sie schon immer so mutig?
Ich denke feministisch, seit ich mich erinnern kann. So musste ich schon früh lernen, unerschrocken zu sein – manchmal ist das auch heute noch nötig. Meinen Widerstandsgeist habe ich als Kind in meinen vielen Ferien im Vinschgau entwickelt, der Südtiroler Heimat meiner Eltern. Damals eine ländliche, konservativ und patriarchal geprägte Gegend. Unser Wohnort St. Gallen war im Vergleich sehr urban. Deshalb fühlte sich meine Mutter wahrscheinlich in dieser Stadt auch so wohl.
Im Vinschgau erfuhren Sie mit etwa 12 Jahren, dass Frauen und Gewalt zusammengehören. Ihre Südtiroler Grossmutter vertraute Ihnen an, dass Ihr Grossvater sie vergewaltigt hat.
Auf unseren Spaziergängen erzählte sie mir aus ihrem Leben – auch von der Gewalt, die von meinem Grossvater ausging. Meine Grossmutter wusste, dass ihr Geheimnis mit mir nach St. Gallen reist, und wählte mich wohl deshalb als Einzige in unserer Verwandtschaft dafür aus. Manch ihrer warnenden Sätze wie «Lass keinen drüber!» haben sich tief in mir eingeprägt. Es war ein Tabu, darüber zu sprechen. Ich traute mich trotzdem, nachzufragen, obwohl ich spürte, welcher Schmerz sich dahinter verbarg. In Büchern, Gesprächen und auf meinem feministischen Studentinnenweg habe ich später viele ähnliche Geschichten erfahren. Dass ich schliesslich Frauenärztin werden wollte, war eine logische Folge.
«Den Schmerz mittragen, ist viel wert.»
Die Ärztewelt der 80er-Jahre war jedoch nicht minder frauenfeindlich.
Vor allem gewisse Oberärzte. Aus dieser Zeit stammt der oft zitierte Satz: «Den Dreck überlassen wir Monika.» Er bewegt mich noch heute. Ich fordere Empathie dafür, dass Frauen nicht in Notlagen geraten, weil sie etwas angeblich falsch gemacht haben, sondern weil die Strukturen frauenfeindlich sind. Nur wenn man diese verändert, gibt es weniger Armut und weniger Frauen, die sich in Abhängigkeiten begeben müssen. Gewalt im Frieden ist die Basis für die Gewalt im Krieg.
1992 reisten Sie als 33-jährige Gynäkologin, mitten im Balkankrieg, Hals über Kopf nach Bosnien. Sie wollten auf eigene Faust ein Therapiezentrum gründen, das medizinische und psychologische Hilfe für im Krieg vergewaltigte Mädchen und Frauen vereint. War dieser Ansatz neu?
Ja. Ich habe ihn zusammen mit meinen bosnischen Kolleginnen entwickelt. Später entstand daraus der stress- und traumasensible Ansatz STA (siehe Box). Ich hatte zuvor in der Uniklinik Essen bereits Pilotprojekte mit einer Psychologin erarbeitet, die einen ganzheitlichen Betreuungsansatz verfolgten. Das war eine sehr intensive und prägende Zeit. In der Gynäkologie verbinden sich das Politische und Medizinische eng mit dem Psychologischen. Ich behandelte Frauen nach Totgeburten, Frauen, die vergewaltigt wurden, Frauen nach einem traumatischen Schwangerschaftsabbruch, HIV-positive, schwangere Frauen. Es war für mich unverständlich, dass es Kolleginnen und Kollegen gab, die das alles bloss medizinisch betrachteten. Sobald man den Frauen zuhört und ihre Geschichten erfährt, hat man eine Verantwortung. Den Schmerz sehen und mittragen, ist viel wert.
Wie gelingt es, empathisch zu bleiben, ohne sich vom Geschilderten selbst traumatisieren zu lassen?
Es ist essenziell, gründlich reflektiert zu haben, um nicht dem psychologischen Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung zu erliegen. Deshalb müssen sich alle, die in diesem Bereich tätig sind, gut selbst kennen. Sonst läuft man Gefahr, sich stellvertretend in das Leid der anderen zu ergeben. Das sehe ich leider immer wieder.
«Ich musste lernen, dass meine Familie nicht als ‹Tankstelle› herhalten darf.»
Und womit beginnt diese Selbstreflexion?
Mit der Erkenntnis, dass diese Arbeit zwei Seiten hat: einerseits meine Empathie für die betroffene Person und andererseits das Gift der Gewalt, das auch in mich eindringt. Automatisch, ohne dass ich es selbst in der Hand habe. Sich dies zu vergegenwärtigen, ist ein wichtiger Teil der Prävention. Sonst droht die Gefahr, etwa eine Depression oder eine sekundäre Traumatisierung zu erleiden, bei der man durch das Gehörte selbst posttraumatische Symptome entwickeln kann. Man kann lernen, rechtzeitig Gegenmassnahmen zu ergreifen.
Was sind Ihre Gegenmassnahmen?
Mittlerweile bemerke ich die Symptome einer Überlastung rasch. Ich besuche dann etwa ganz bewusst mit meinem Mann ein Theater. Oder treibe Sport, gehe in die Natur. Das erfüllt mich und tut mir gut. Entspannendes wirkt als Gegenmittel zum Zerstörerischen.
In einem Interview sagten Sie, Sie hätten sich Ihre mentale Gesundheit – nicht zuletzt wegen eines Burnouts 1995 – «hart erarbeitet».
Sehr hart sogar. Und es bleibt eine lebenslange Aufgabe. Mein Zusammenbruch war am Ende sehr hilfreich. Ich musste etwa lernen, dass meine Familie nicht als «Tankstelle» herhalten darf. Um ein gleichberechtigtes Mitglied der Familie zu sein, muss ich die Zapfsäulen bei mir selbst finden. Damit ich ebenfalls geben kann. Meine Erfahrungen flossen auch in unsere «Achtsame Organisationskultur». Alle, ob Buchhalterin oder Therapeutin, müssen normalen und traumatischen Stress voneinander unterscheiden können. Sie brauchen ein Handwerk, wie sie damit umgehen können – im Gespräch und für sich selbst. Zudem ist interne Unterstützung durch Supervision bei uns Standard.
Weshalb ist Sprache zentral für die Gleichstellung?
Weil Sein das Bewusstsein bestimmt und umgekehrt. Dazu gehört auch die Sprache. Wenn in einer Beschreibung zum Beispiel nur von Chirurgen und Handwerkern die Rede ist, dann hat das Gegenüber meist nur männliche Personen im Kopf. Das heisst, Frauen und ihre Kompetenzen verschwinden komplett. Deshalb ist gendern so wichtig. Damit auch die Frauen sichtbar werden. Genauso wie nicht-binäre, queere und Transpersonen. Damit wir es schaffen, das stereotype Denken und diese Bilder in den Köpfen aufzubrechen. Darüber hinaus ist Sprache wichtig, um Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen als solche klar und differenziert benennen zu können. Wir sprechen daher auch bewusst von sexualisierter und nicht von sexueller Gewalt. Denn die Gewalt wird sexualisiert.
Medica Mondiale beschäftigt heute weltweit 280 Frauen. Wie nehmen Sie Ihre Rolle als Gründerin und im Vorstand heute wahr?
Als geschäftsführende Vorstandsfrau habe ich viele Aufgaben und bin in viele Prozesse eingebunden, was zum Beispiel viele Konferenzen und Dienstreisen bedingt, aber auch politische Termine und Öffentlichkeitsarbeit. Meine Tätigkeit als praktizierende Gynäkologin gab ich daher kurz nach der Gründung unseres Vereins auf. Es ist mir wichtig, jährlich zwei bis drei Projekte vor Ort zu besuchen. Diese Reisen sind zentral für meine Glaubwürdigkeit, weil ich die Kontinuität unserer Arbeit sehe. Die Besuche nähren sowohl mich als auch die lokal tätigen Kolleginnen.
Zur Person
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Geboren am 24. Mai 1959, aufgewachsen in St. Gallen, lebt die Fachärztin für Gynäkologie, Frauenrechtsaktivistin und Mutter eines 27-jährigen Sohnes mit ihrem Mann Klaus-Peter Klauner in Brühl bei Köln.
- Gründete 1993 die Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale und ist heute Vorstandsvorsitzende in Köln sowie Stiftungsratsmitglied von Medica Mondiale Foundation Switzerland in Zürich.
- Erhielt (neben vielen anderen Auszeichnungen) 2008 den Right Livelihood Award, auch als «Alternativer Nobelpreis» bekannt.
- Lesen: Chantal Louis: «Monika Hauser – Nicht aufhören anzufangen», 2008, Verlag Rüffer & Rub. Sehen: «Monika Hauser – Ein Porträt», D 2018, 86 Min. Hören: «Zeit»-Podcast «Alles gesagt?» mit Monika Hauser, 2023, 250 Min.
Ist es nicht ernüchternd, dass global noch immer frauenfeindliche Strukturen dominieren?
Dass sich dies grundlegend verändert, werde ich wohl nicht mehr erleben. Es wird weitere Generationen dauern. So tief die patriarchalen Strukturen verankert sind, so hartnäckig müssen wir langfristige Gegenstrategien entwickeln. Es gibt dazu keine Alternative. Und wir haben bisher Erfolg damit. Ich konnte seit 1993 viele Änderungen beobachten. Etwa Resolutionen wie die UNO-Resolution 1325, die u. a. die Rechte von Frauen in Konfliktsituationen schützt. Wir haben den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der Kriegsvergewaltigungen explizit als Kriegsverbrechen und Verbrechen an der Menschlichkeit tituliert – auch wenn dafür noch nicht einmal eine Handvoll Männer verurteilt wurde. Zudem sind Vergewaltigungen längst als Kriegsstrategie erkannt, auch wenn dieser Begriff zu kurz greift. Dass Putin die russischen Vergewaltiger von Bucha ehrte, verstehe ich als klaren Code unter Männern, dass sie im Krieg tun und machen lassen können, was sie wollen.
«Wir alle sollten mit Zivilcourage die Übel benennen.»
Woher nehmen Sie die Kraft, um immer weiterzumachen?
Sie ist tief in mir verankert. Ich kann mir keine andere Aufgabe mehr vorstellen. Es ist jedoch denkbar, dass ich mir künftig vermehrt Auszeiten und Reisen gönne und mich weiter aus dem operativen Geschäft zurückziehe. Aber die Aufgabe des Aufrüttelns und Sensibilisierens bleibt dieselbe.
Die Welt ist gerade sehr düster. Was gibt Ihnen, trotz allem, Hoffnung?
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und den Anschlägen der Hamas hat sich die Welt weiter drastisch verändert. Eine Menschheitsaufgabe kommt auf uns zu. Sobald ich zu zweifeln beginne, denke ich an meine mutigen Kolleginnen überall auf der Welt. Trotz fortwährender Gewalt kämpfen sie weiter. Durch sie bewahre ich mir eine mit strategischen Überlegungen gepaarte Hoffnung. Sie machen mir deutlich: Für Menschen wie mich, die in Sicherheit leben dürfen, ist es nicht gefährlich, Zivilcourage zu zeigen. Es braucht lediglich etwas Mut, auch in seinem eigenen Umfeld. Wir alle sollten mit Zivilcourage die Übel benennen und uns einsetzen. Wenn ich im Tram eine Situation, in der jemand beleidigt oder belästigt wird, unterbreche, dann wirkt sich dies nicht nur auf mich aus – weil ich nicht geschwiegen habe –, sondern auch auf die Betroffenen sowie die Menschen, die der Szene beiwohnen. Es liegt auch an uns, etwas zu verändern.
Medica Mondiale: In 13 Ländern aktiv
Der Anfang
Monika Hauser ist schockiert, als sie 1992 von den Massenvergewaltigungen im Bosnienkrieg liest. Die Gynäkologin beschliesst, zu handeln, und reist auf eigene Faust ins Kriegsgebiet. Mit lokalen Helferinnen baut sie ein Frauenzentrum auf. Der Grundstein für Medica Mondiale ist gelegt. Heute ist die Frauenrechtsorganisation weltweit in 13 Ländern tätig – u. a. in Afghanistan, im Irak, der Schweiz, Südosteuropa sowie in Afrika. In der Geschäftsstelle in Köln und Berlin sind ca. 80 Personen angestellt. Medica Mondiale unterstützt jährlich ca. 14000 von Kriegsgewalt betroffene Frauen und Mädchen – u. a. psychologisch, medizinisch, rechtlich und politisch.
Infos: medicamondiale.org
Die Sensibilisierung
Medica Mondiale hat mit «STA» ein psychologisches Präventionsprogramm entwickelt. Es befähigt «Fachleute und solidarische Personen, stress- und traumasensibel handeln zu können, wenn sie mit Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen in Kontakt kommen», schreibt Medica Mondiale. Auch in der Schweiz werden STA-Weiterbildungskurse angeboten.
Infos: medicamondiale.ch,
Telefon 079 522 22 25
Die Anekdote
Zu Beginn der 2000er-Jahre trifft Monika Hauser in Kabul auf eine hochaltrige Frau, die einen Alphabetisierungskurs von Medica Mondiale besucht. Auf die Frage, weshalb sie noch schreiben und lesen lernen möchte, antwortet die Afghanin sinngemäss: «Damit ich selbst nachlesen kann, ob das, worauf sich unsere Männer im Koran beziehen, auch tatsächlich so drinsteht.»