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Enrique Steiger: «Wer in Angst lebt, kann nichts erreichen» 

Zwei Drittel des Jahres macht Enrique Steiger Faceliftings und Brustvergrösserungen für die Schönen und Reichen. Den Rest seiner Zeit behandelt er Kriegsopfer und riskiert dafür sein Leben. Wie passt das zusammen?

Interview: Claudia Senn

Enrique Steiger, seit mehr als drei Jahrzehnten arbeiten Sie immer wieder als Chirurg in Kriegs- und Krisengebieten. Wie kam es dazu?
Als junger Assistenzarzt im dritten oder vierten Jahr verlor ich vorübergehend die Lust an meinem Job und hatte vor, drei Monate segeln zu gehen. Da erzählte mir mein Chef, dass die Schweizer UNO-Mission in Namibia einen Arzt suche. Für mich klang das nach Abenteuer und «Out of Africa». Also sagte ich zu, obwohl ich nicht einmal wusste, wo Namibia genau liegt. Ich fand mich mitten im Krieg wieder und entdeckte mein Talent, Ordnung im Chaos zu stiften. 

Ihr härtester Einsatz war vermutlich derjenige während des Völkermordes in Ruanda 1994. Wussten Sie, worauf Sie sich da einlassen?
Nicht wirklich. Noch während meiner Anreise wollte mich das IKRK wieder abziehen. Tu es nicht, sagten sie, du hast Familie. In kurzer Zeit waren schon mehr als eine halbe Million Menschen ermordet worden. Seit Pol Pot und seinen Roten Khmer in Kambodscha hatte es kein solches Gemetzel mehr gegeben. 

Warum sind Sie trotzdem ­weitergereist?
Wenn ich schon mal da bin, dann ziehe ich es auch durch, dachte ich. In solchen Momenten kann ich sehr stur sein. Ich flog mit einem schwedischen Chirurgen-Team in einem militärischen Transportflugzeug nach Kigali. Die Schweden trugen kugelsichere Westen. Ich sagte: Im Flugzeug nützt es euch nichts, wenn ihr die Westen anhabt. Setzt euch besser drauf, denn bei einem Beschuss kommen die Kugeln von unten, nicht von der Seite. Hektisch zogen alle ihre Westen aus und setzten sich drauf. Da sah ich schon die ersten Einschusslöcher im Boden, durch die Licht in die Maschine drang.

Sie wurden beschossen?
Ja, der Pilot drehte sofort um und flog zurück nach Nairobi. Dort verabschiedeten sich die schwedischen Chirurgen und sagten: Vielen Dank, wir wollen doch nicht mit dir James Bond spielen. Ich reiste allein über Burundi auf dem Landweg nach Ruanda, was noch viel gefährlicher war.

«Mehrmals hielt mir jemand ein Gewehr an den Kopf und drohte, mich umzubringen.»

Dort kamen Sie an, während der ­Völkermord in vollem Gange war. Wie haben Sie das erlebt? 
Es war ein Albtraum. Wenn wir morgens aus unserer Mission herausfahren wollten, mussten wir erst die Toten wegräumen, die in der Nacht vor den Toren umgebracht worden waren. Mehrmals hielt mir jemand ein Gewehr an den Kopf und drohte, mich umzubringen. Wir schufteten manchmal 24 Stunden durch, behandelten Macheten-, Brand- und Schussverletzungen. Dann kam eine Hutu-Miliz und erschoss all unsere Tutsi-Patienten in ihren Betten.

Enrique Steiger (67), ursprünglich Facharzt für allgemeine Chirurgie und Unfallchirurgie, im Interview mit der Zeitlupe.
© Mirjam Kluka

Jeden anderen hätte das traumatisiert. Warum Sie nicht?
So etwas hinterlässt immer seelische Spuren, auch bei mir. 

Wie haben Sie Ihr Trauma bewältigt?
Indem ich gleich zum nächsten Einsatz geflogen bin. Das IKRK wollte mir erst einmal ein Jahr Pause gönnen. Die hatten Angst, dass ein «War-Junkie» aus mir werden könnte, der sich im normalen Alltag nicht mehr zurechtfindet. Doch ich war früher bei der Schweizer Luftwaffe. Da galt die Doktrin: Wenn ein Pilot abstürzt, versucht man, ihn so schnell wie möglich wieder ins Cockpit zu setzen, damit er begreift, dass der Absturz ein einmaliges Ereignis war. Sonst könnte es passieren, dass er vielleicht nie wieder fliegt. So weit sollte es bei mir nicht kommen.

Krieg ist aber kein einmaliges ­Ereignis. Hatten Sie keine Angst um Ihr Leben?
Nein. Niemand, mit dem ich arbeite, hat Angst um sein Leben. Ich habe schon so viele gefährliche Situationen überstanden. Meine sieben Leben sind längst aufgebraucht. Ich glaube, meine Zeit ist noch nicht gekommen. Und wenn sie kommt, nützt es auch nichts,gegen sein Schicksal aufzubegehren. Vielleicht halte ich mich insgeheim sogar für unverwundbar.

Ist das mutig – oder einfach nur leichtsinnig?
Ich bin nicht besonders mutig. Meine Mitarbeiter und ich wissen alle, dass unsere Einsätze gefährlich sind. Aber das Leben ist per se gefährlich. Mein Vater hat immer gesagt: Das Leben ist eine sexuell übertragbare Krankheit, die eines Tages unweigerlich zum Tode führt.

Sie sind also ein Fatalist.
Genau. Heute Abend fliege ich in den Irak. Dort ist es jetzt etwas ruhiger, aber trotzdem nicht ungefährlich. Es schlagen immer mal wieder iranische Raketen ein. Ein paar hundert Meter von unserem Wohnort entfernt wurde kürzlich das Auto des dortigen Polizeikommandanten mit seiner Familie in die Luft gesprengt. In Afghanistan verschanzen sich andere Hilfsorganisationen hinter dicken Mauern. Wir essen abends im Restaurant und fühlen uns wohl dabei. Wer in Angst lebt, kann nichts erreichen. Als humanitäre Helfer sind wir in der Regel nicht das primäre Ziel eines Angriffes. Dennoch gibt es Gruppierungen, denen unsere Präsenz ein Dorn im Auge ist, in Afghanistan etwa dem ISIS Khorasan.

«Die Taliban setzen mir einen Mann mit einer Kalaschnikow vor den Operationssaal.»

Ein Angriff könnte versehentlich passieren. Sie könnten einfach zur falschen Zeit am falschen Ort sein.
Stimmt. Ich könnte aber auch in Zürich von einem Auto überfahren werden. Wenn ich in Afghanistan bin, setzen mir die Taliban einen Mann mit einer Kalaschnikow vor den Operationssaal. Den brauche ich eigentlich nicht. Aber die Taliban sagen, sie hätten für meine Sicherheit garantiert, also habe das schon
seine Richtigkeit.

Im Krieg sehen Sie schwerste Verletzungen: abgetrennte Gliedmassen, Schusswunden, grossflächige Verbrennungen. Sind Sie der abgehärtete Chirurg, den nichts mehr schockieren kann, oder berührt Sie das auch persönlich?
Ein Chirurg, der emotional involviert ist, ist unbrauchbar. Im Krieg wollen Sie keinen heulenden Arzt sehen. Da müssen Sie stark sein, ein Leuchtturm, der den Leuten zeigt, es kommt alles gut, ich hole euch da raus. Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter, hat Winston Churchill einmal gesagt.

Trotzdem sind Sie doch auch ein Mensch mit Ängsten, Zweifeln, Überforderungen.
Später, wenn Sie allein in Ihrem Zimmer sind, da dürfen Sie einknicken und zusammenbrechen. Aber vor den Leuten müssen Sie Leadership zeigen. In Goma hat einmal eine meiner Ärztinnen vor laufender CNN-Kamera einer Patientin die Hand gehalten und geweint. Ich habe sie sofort nach Hause geschickt.

Was ist es, das Sie immer wieder in den Krieg zieht? Fühlen Sie sich besonders lebendig, wenn Sie im Auge des Zyklons stehen?
Ich spüre jede Faser meines Körpers, ja. Ich lebe viel intensiver und bin voller Dankbarkeit.

Hat Ihre Familie Ihr Engagement immer mitgetragen?
Bis jetzt schon. Ich habe eine sehr starke Frau und eine tolle Tochter. Wenn sie nicht hinter mir stehen würden, könnte ich das alles nicht machen. Andererseits wussten sie auch, dass sie mich sowieso nicht stoppen können. Mag sein, dass das egoistisch von mir ist. Doch wenn mir etwas passiert, wird meine Frau damit fertig. Da bin ich mir sicher. 

Wer in einer Sache Meisterschaft erlangt, bezahlt oft auf anderen Gebieten einen Preis dafür. Welches ist Ihrer? 
Die Familie, ganz klar. Die hatte nicht viel von mir. Ich war nicht immer da, wenn meine Frau mich gebraucht hätte. Das ist nichts, worauf ich besonders stolz bin. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen. Aber irgendwo muss man Abstriche machen. 

«War es das alles wert? Ich weiss es nicht.»

Bedauern Sie das?
Ja. Im Nachhinein weiss ich auch nicht: War es diesen Preis wirklich wert? Denn wenn ich mir die Welt so anschaue, dann wird sie nicht besser, sondern eher schlimmer. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre diesen Weg nicht gegangen, aber ich kann nicht mehr zurück. 

Enrique Steiger (67), ursprünglich Facharzt für allgemeine Chirurgie und Unfallchirurgie, im Interview mit der Zeitlupe.
© Mirjam Kluka

Das klingt nun, als sässen Sie in einem selbst geschaffenen Gefängnis.
Ja, vielleicht ist es das: ein Gefängnis. Doch so geht es wohl allen beruflich sehr eingespannten Menschen. Auf anderen Gebieten ziehen sie immer den Kürzeren.

Gleich schwebt eine Patientin mit ihrem Privatflugzeug aus Paris ein. Nur, um Sie kurz zu sehen, bevor Sie in den Irak fliegen. Wie kommen Sie mit der Fallhöhe Ihrer beiden Welten klar? Heute behandeln Sie die Superreichen, morgen jene, denen nur noch die nackte Existenz bleibt.
Den Patientinnen und Patienten gegenüber empfinde ich dieselbe Verantwortung, egal, ob ich sie nun hier, in Los Angeles oder in einem Kriegsgebiet operiere. Meinen medizinischen Auftrag nehme ich genauso ernst. Ausserdem sind unter meinen reichen Patientinnen und Patienten sehr grosszügige Spender, die mein humanitäres Engagement mitfinanzieren.

Hat die Amputation eines von einer Landmine zerfetzten Beins nicht eine ganz andere Dringlichkeit als ein Facelifting?
Natürlich, doch anders, als viele Leute glauben, ist Schönheitschirurgie kein Luxus. Viele Patientinnen und Patienten leiden stark unter ihren Deformitäten. Wenn ich sie behebe, habe ich damit ebenso viel erreicht, wie wenn ich das gebrochene Bein meines Nachbarsbuben operiere, damit er wieder tschutten kann. Sich attraktiv zu fühlen, ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wenn ich in einem Kriegsgebiet arbeite und sich die Situation etwas beruhigt, passiert es öfter, dass Mitarbeiterinnen oder Patienten auf mich zukommen und fragen: Könnten Sie nicht auch noch meine zu grosse Brust verkleinern, mein hängendes Augenlid operieren? 

Wenn Sie jemand Neues kennenlernen, sehen Sie ihn dann durch die Brille des Schönheitschirurgen, der sofort erkennt, was es zu optimieren gäbe?
Nein, überhaupt nicht. Wenn ich hier zur Tür rauslaufe, höre ich auf, zu arbeiten. Dann sehe ich höchstens noch, ob mir jemand sympathisch ist oder nicht.

Keine «déformation professionelle»?
Wahrscheinlich betrachte ich mich selbst etwas kritischer als andere. Ich spritze mir Botox in die Stirn. Vor Kurzem habe ich mir auch ein paar Fältchen unter den Augen wegmachen lassen. Andererseits ist meine Nase ziemlich schief, und ich habe trotzdem eine Frau gefunden.

Lag Ihre Frau auch schon auf Ihrem OP-Tisch?
Die offizielle Antwort lautet: Das müssen Sie meine Frau fragen. Aber meine Frau würde sich natürlich bei niemand anderem auf den Tisch legen. Ich habe auch unsere Tochter zur Welt gebracht, weil der Gynäkologe gerade auf dem Golfplatz verschollen war. Es drängte etwas, die Fruchtblase war bereits geplatzt. Da dachte ich: In Tansania habe ich 300 Kinder entbunden, da schaffe ich auch noch diesen Kaiserschnitt. Das würde ich aber nicht zur Nachahmung empfehlen.

© Mirjam Kluka

Persönlich

  • Enrique Steiger (67) ist ursprünglich Facharzt für allgemeine Chirurgie und Unfallchirurgie.
  • Nachdem er in der Abteilung für schwere Verbrennungen am Unispital Zürich gearbeitet hatte, entschloss er sich, auch die Plastische und Wiederherstellungschirurgie zu erlernen.
  • Später liess er sich von Ivo Pitanguy in Rio de Janeiro und von Bruce Connell in Los Angeles – laut Steiger «die besten ihres Fachs» – als Schönheitschirurg ausbilden.
  • Seit 1997 führt er seine eigene Klinik in Zürich. Steiger lebt im Engadin. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

Enrique Steiger in Erbil, Nordirak. © swisscross

Swisscross

Drei bis vier Monate pro Jahr ist Enrique Steiger in humanitärer Mission unterwegs. Steiger plant, diese Zeitspanne bald auf sechs Monate auszudehnen und in seiner Zürcher Klinik zurückzustecken. Anfangs war er für die UNO und das IKRK in Namibia, Angola, Marokko, Sierra Leone und in unzähligen weiteren Krisenherden im Einsatz. Doch inzwischen hat er mit Swisscross seine eigene Hilfsorganisation gegründet.

Unentgeltliches Engagement

«Wir kommen mit einem Bruchteil der Gelder aus, die klassische Hilfsorganisationen benötigen, weil wir alle gratis arbeiten, und unsere Verwaltungskosten minim sind», sagt Steiger. Die Stiftung finanziert sich über Spenden. Sie kommen oft von Steigers reichen Patientinnen und Patienten, die sich grosszügig zeigen, wenn sie vom humanitären Engagement ihres Schönheitschirurgen erfahren.

Ausbildung vor Ort

«Für jeden Menschen, der in einem Krieg stirbt, gibt es vier weitere, die schwer verwundet werden», sagt Enrique Steiger. Viele hätten keinerlei Zugang zu fachärztlicher Hilfe. Verletzungen heilten ohne die notwendige Behandlung schlecht ab und führten zu langfristigen Folgeschäden. Um möglichst nachhaltig zu helfen, entsendet Swisscross nicht nur Ärztinnen und Ärzte in Krisengebiete, sondern bildet auch medizinisches Personal vor Ort aus, zurzeit etwa im Irak sowie in Afghanistan, wo Swisscross als einzige Hilfsorganisation mit der Taliban-Regierung zusammenarbeitet.

www.swisscross.org; auf der Website gibt es auch einen QR-Code zum Spenden.

Beitrag vom 13.03.2025