Während des Lockdowns galt in Pflegeeinrichtungen ein striktes Besuchsverbot. Medizinethiker Settimio Monteverde blickt zurück und zeigt Wege für mehr Lebensqualität auch in Pandemiezeiten.
Interview: Usch Vollenwyder
Sie sind Pflegefachmann, Medizinethiker, Dozent für Ethik im Gesundheitswesen, und Sie haben Theologie studiert. In welcher Rolle hat Sie Corona am meisten betroffen und gefordert? Am schwierigsten war die Rolle als Angehöriger: Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim und erkrankte an Covid-19. Sie wurde ins Spital verlegt. Meine Erfahrungen als Sohn und gesetzlicher Vertreter meiner Mutter während dieser Pandemiezeit haben mich zutiefst erschüttert. Zu Beginn der Krise wusste man ja noch wenig über das Virus. Man wollte zu Recht das Leben von Bewohnenden und Personal schützen und hat fast sofort Alters- und Pflegeinstitutionen, aber auch Spitäler geschlossen. Als Angehöriger war man ständig in der Rolle des Bittstellers. Im Spital wie auch im Pflegeheim war es oft schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, mit meiner Mutter Kontakt aufzunehmen. Meine Mutter leidet an einer Demenz. Im Spital war sie wegen einer Infektion verwirrt, sie stürzte, wurde fixiert und medikamentös ruhiggestellt. Nur zufällig erfuhr ich davon. Sie hat Covid-19 gut überlebt. Die Folgen der pflegerischen Unterversorgung und des Besuchsverbots waren für sie weitaus gefährlicher.
Wie sehr war das Besuchsverbot wirksam? Europaweit wurde das strikte Besuchsverbot über Wochen und Monate aufrechterhalten. Und trotzdem konnte es nicht verhindern, dass sich viele Todesfälle in Pflegeheimen ereigneten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sicher gehört die Gebrechlichkeit vieler Bewohnerinnen und Bewohner dazu, aber auch ihre Wohn- und Lebensform: Ist das Virus einmal im Heim und fehlen Schutzmaterial oder Schutzkonzepte, hat es ein leichtes Spiel. Zu wenig Personal, schlechte Qualifikationen und die totale Informationssperre nach aussen erschwerten die Situation zusätzlich.
Darf und soll – um Leben zu schützen – jeder Preis bezahlt werden? Die soziale Isolation kann für die Betroffenen gravierende Folgen haben: Die Trennung von engen Bezugspersonen kann ebenso «ans Lebendige» gehen. Umso mehr, als diese Personen nicht einfach Besuchende, sondern pflegende Angehörige und deshalb für Lebensqualität und das Gefühl der Zugehörigkeit unverzichtbar sind. Gerade bei Demenzkranken hat die räumliche und soziale Trennung von ihren Bezugspersonen zu einen raschen kognitiven Abbau und körperlichem Zerfall geführt. Eine Pflegende hat mir gesagt: «Jetzt weiss ich, dass man auch an Einsamkeit sterben kann.»
Was hätte man in dieser Situation anders tun können? Die Verantwortlichen mussten zu Beginn rasch handeln. Doch das vielerorts radikal durchgezogene Besuchsverbot, aber auch die Informationssperre gingen eindeutig zu weit. Bei jeder Bewohnerin und jedem Bewohner hätte man den physischen Kontakt zur nächsten Bezugsperson aufrechterhalten müssen – selbstverständlich kontrolliert und unter Einhaltung der Schutzmassnahmen, die auch für das Personal galten: Gesundheitscheck, Instruktion über Hygieneregeln, Mundschutz und Distanz. Das hätte den Betroffenen eine Tagesstruktur gegeben und bestimmt auch das Personal entlastet. Stattdessen machte man alles dicht. Das lässt auch rechtliche Fragen offen.
Welche? Unsere Rechtsordnung schützt die Persönlichkeit jedes Einzelnen. Dazu gehört das Recht auf Selbstbestimmung in Fragen, die das eigene Wohlergehen betreffen. Aber auch das Recht auf gesetzliche Vertretung, wenn man die eigenen Interessen nicht mehr wahrnehmen kann. Selbstverständlich müssen diese Rechte immer auch mit den Rechten und dem Schutz der Gemeinschaft abgewogen werden. Der Lebensschutz gilt jedoch nicht absolut – er muss immer in Verbindung mit Lebensqualität und Selbstbestimmung erbracht werden.
Waren die bundesrätlichen Vorgaben – also das Besuchsverbot – nicht unmissverständlich klar? Der Bundesrat hat vor allem eine Empfehlung für das Besuchsverbot ausgesprochen – das hat auch die Nationale Ethikkommission in ihrer Stellungnahme hervorgehoben. Für die Umsetzung jedoch waren die Kantone zuständig. Dafür brauchte es Augenmass. Gerade dieses haben etliche Pflegeheime verloren, sie liessen sich von der Angst leiten und beriefen sich auf ein bundesrätliches Notrecht, welches das Besuchsverbot beinhalte. Andere hingegen haben mit Fantasie und Zivilcourage das Beste aus der Situation gemacht. Sie haben von Anfang an Begegnungsmöglichkeiten geschaffen und damit den Alltag der Betroffenen erträglicher gemacht – ohne ihre Sicherheit zu gefährden.
Pflegeheime wollten primär Leben schützen, viele Bewohnendewollten sich jedoch gar nicht schützen lassen. Wie löst man dieses Dilemma? Das Heim ist eine Schicksalsgemeinschaft. Es gibt eine Hausordnung, und ein Heim hat das Recht, gewisse Auflagen zu machen – zum Beispiel, dass seine Bewohnerinnen und Bewohner ausserhalb ihrer Zimmer Abstand halten, die Hygieneregeln beachten und einen Mundschutz tragen. Einer urteilsfähigen Person sind diese Einschränkungen im Interesse der Mitbewohnenden zuzumuten, selbst dann, wenn sie sich selbst nicht schützen möchte. Doch ein urteilsunfähiger Mensch, der den Zweck dieser Massnahmen nicht nachvollziehen kann, ist besonders verletzlich. Hier müssen die Massnahmen sorgfältig abgewogen und mit der gesetzlichen Vertretungsperson abgesprochen werden.
Waren Pflegeheimbewohner und -bewohnerinnen benachteiligt? Jeder Hundertjährige, jede Lungenkranke – sofern sie in den eigenen vier Wänden lebten – konnte jederzeit hinaus, auf einen Spaziergang oder sogar zum Einkaufen. Viele Heimbewohner jedoch waren tagelang sprichwörtlich in ihren Zimmern interniert. In welchem Ausmass sie ans Tageslicht oder an die frische Luft kamen, war – als Folge der Informationssperre – unklar. Heimbewohnerinnen und -bewohner waren aber auch gegenüber medizinischen Therapien benachteiligt: Mit dem strikten Besuchsverbot war der Zugang von Hausärzten, Therapeuten, Seelsorgenden und weiteren Fachpersonen oftmals erschwert, was negative Folgen auch für die psychische Gesundheit hatte. In gewissen Kantonen wurde sogar ein Spitalübertritt von Bewohnenden mit Covid-19-Verdacht an strengere Auflagen geknüpft als bei der übrigen Bevölkerung.
Zusammen mit weiteren Expertinnen und Experten haben Sie den Appell «Pandemie: Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege» verfasst. Warum? Der Appell ist an die Verantwortungsträger aus Politik, Management, Pflege und Betreuung gerichtet und wurde von weit über hundert Medizinethikern, Juristinnen, Pflegewissenschaftlern und Medizinerinnen unterschrieben. Wir sind der festen Überzeugung, dass der Schutz des Lebens mit dem Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität einhergehen muss. In zehn Punkten ersuchen wir die Verantwortlichen, für Menschen in Pflegeeinrichtungen eine sichere und menschenwürdige Umgebung zu schaffen. Denn auch in einer Pandemiesituation soll das Leben so geschützt werden, dass es von den Betroffenen als lebenswert erfahren wird. Ein solches Leid, wie es durch die radikale Abschottung in vielen Langzeiteinrichtungen geschehen ist, darf nicht mehr passieren.
(54), Dr. sc. med., studierte evangelische Theologie machte die Ausbildung zum Pflegefachmann und promovierte in Biomedizinischer Ethik. Am Universitätsspital Zürich und am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich ist er als Klinischer Ethiker tätig. Er ist Dozent an der Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit, und war Mitglied diverser Ethikkommissionen. Settimio Monteverde lebt in registrierter Partnerschaft und wohnt in Arlesheim (BL). Kontakt: settimio.monteverde@uzh.ch
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