Eine(r) für alle
Die Zahl der Schweizer Gemeinschaftsgärten wächst stetig. Darin spannen Jung und Alt zusammen, um ihre Mühen und Ernten mit anderen zu teilen. Alle profitieren gleichermassen davon.
Text: Roland Grüter
Die Schrebergärten des Winterthurer Mattenbach-Quartiers ächzen in der Sommerglut. Rund 200 Parzellen liegen hier nebeneinander. In den meisten herrscht rechtschaffene Ordnung. Bohnen und Tomaten stehen stramm in einer Reihe. Kein einziges Unkraut weit und breit.
Heute aber mag kaum eine(r) die Harke schwingen, dafür ist es viel zu heiss. Einzig am Ende des Kiesweges wagen sich zwei Unerschrockene ins Strahlenmeer der Sonne: Peter Kretschi (77) und Tamara Roost (30) verschaffen sich in ihrem Reich Übersicht, welche Gartenpflichten dringlich sind. Im Gegensatz zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn wachen sie nicht allein über Gemüse und Blühstauden. Sie sind Mitglieder einer Gemeinschaft, vielmehr eines Gemeinschaftsgartens. Dieser wird von insgesamt zwölf Naturfreundinnen und -freunden unterhalten. Von alleinerziehenden Müttern, Weltverbesserern, Gemüsefans. Jung und Alt wirken darin Seite an Seite, und Peter Kretschi (77), ein pensionierter Gärtner, dirigiert das Kuddelmuddel. «Willkommen im Gemeinschaftsgarten Mattenhof», sagt er und streckt dem Besucher seine erdige Hand zum Gruss entgegen.
Der Gemeinschaftsgarten Mattenbach unterscheidet sich deutlich von anderen Pünten, wie Schrebergärten in Winterthur genannt werden. Er ist neun Mal grösser als andere und spannt sich über 1000 Quadratmeter. Zwischen den Beeten wachsen allerlei Wildstauden und Gras. Blaue Tonnen stehen nach dem Zufallsprinzip im Grün. Manche Beete liegen brach und werden von Eselsdisteln und anderen Beikräutern besetzt. Die Gemeinschaft folgt strikt naturnahen und biologischen Gesetzen. «Natürlich geht es auch uns um ertragreiche Ernten», sagt Peter Kretschi, der den lose bepflanzten Gemeinschaftsgarten vor acht Jahren mitbegründet hat. «Doch darin sind andere Faktoren genauso wichtig: das Miteinander, der Erfahrungsaustausch.» Frei nach dem Motto: Eine für alle und alle für einen.
«Der Garten hat mir wichtige Freundschaften beschert»
Daniel Müller (69), ein ehemalige Heilpädagoge, ist unter anderem deshalb ins Zürcher Mattenhof-Quartier gezogen, weil dieses einen Gemeinschaftsgarten umfasst. Denn die Siedlung hatte anfangs Naturfreunden, wie er es einer ist, sonst wenig zu bieten. Versiegelte Flächen und überall Asphalt, wenig ökologische Vielfalt. Der urbane Lebensraum wird seit Jahren fortlaufend naturnah umgestaltet. Anwohnerinnen und Anwohner gestalten den Prozess aktiv mit. Zu den vielen Projekten, die dazu angestossen wurden, gehört auch der biologisch unterhaltene Gemeinschaftsgarten. Dieser liegt am Rand der Siedlung.Daniel Müller, der seit 40 Jahren gärtnert, ist fast jeden Tag in der grünen Oase anzutreffen. «Der Garten hat mir wichtige Bekanntschaften, ja Freundschaften beschert», sagt der Pädagoge. Denn nach der Pension sei sein soziales Umfeld kleiner, der Austausch mit andern seltener geworden. «Kontakte aber sind mir wichtig, vor allem jene mit Jüngeren.» Manchmal eilen Kinder herbei, ist der Zürcher im Garten am Wirken. Dann zeigt er ihnen beispielsweise, wie der Kreislauf der Natur funktioniert. Denn Daniel Müller ist mitverantwortlich für den Komposthaufen des Gemeinschaftsgartens. Woher das Interesse rührt? «Es fasziniert mich: Etwas zerfällt, damit etwas Fruchtbares und Neues entstehen kann. Ich sehe darin eine Metapher fürs Leben.»Anfangs war der Gemeinschaftsgarten Mattenhof basisdemokratisch organisiert: Jeder war für alles verantwortlich. Das überforderte aber viele dermassen, dass es in der Gruppe zu Spannungen kam. Mittlerweile hüten die einzelnen Mitglieder nur noch einen überschaubaren Teil des Areals: mindestens ein privates sowie ein allgemeines Beet. Die Ernten aus den öffentlichen Bereichen werden aufgeteilt. Fixe, gemeinsame Arbeitszeiten sind nicht vorgesehen, denn der Einsatz soll möglichst flexibel bleiben. Manche Aufgaben sind aber im Ämtliplan festgehalten. Damit der nötige Einsatz möglichst gerecht aufgeteilt wird.
Dieser Ruf hallt mittlerweile durch die gesamte Schweiz. Der Wille, selbst Gemüse zu kultivieren und der Natur aktiv Sorge zu tragen, ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Das beweist unter anderem die nationale Aktion «Mission B – für mehr Biodiversität», initiiert von SRF. Schweizweit wurden darin über zwei Millionen Quadratmeter naturalisiert, sozusagen an Blumen, Bienen, Vögel und Eidechsen zurückgegeben. Auch die Wartelisten städtischer Schrebergärten sind elendiglich lang. Interessierten mangelt es folglich an Gelegenheiten, aber oft genug auch am Wissen oder an der Zeit, einen eigenen Garten zu unterhalten. Ein Gemeinschaftsgarten kann diese Nachteile mildern. Denn der Aufwand in einem Kollektiv ist generell kleiner. Junge profitieren vom Erfahrungsschatz älterer Mitstreiter, und Oldies wiederum erhalten von den Jungen neue Denkanstösse und können anstrengende Mühen den anderen überlassen. Darüber hinaus ist in Gemeinschaftsgärten die Ferienfrage geklärt. Wer vor Ort ist, erntet.
Natur in der Stadt
Was auch für das Miteinander spricht: Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung leben in städtischen Gebieten – für viele Menschen ist damit die Natur in weite Ferne gerückt. Sogenannte Community Gardens, Gemeinschaftsgärten wie der Winterthurer Mattenbach, wollen die Natur in die Städte zurücktragen – und damit urbane Quartiere, das nachbarschaftliche Zusammensein der Bewohnerinnen und Bewohner aufwerten.
Auch diese Idee überzeugt zusehends, längst nicht nur in Winterthur. Kaum eine Schweizer Stadt, die keinen Gemeinschaftsgarten vorzuweisen hat – und aktiv fördert und/oder finanziell unterstützt. In Winterthur beispielsweise sind zwei solcher Einrichtungen zu finden. Stadtgrün Bern wiederumbegründete dafür drei Projekte, im kommenden Jahr kommt auf dem Schönbergareal ein viertes dazu. Selbst private Institutionen rufen laut zum Miteinander auf: Seit April 2016 wird beispielsweise im Luzerner Kloster Wesemlin die Hälfte des Nutzgartens von einer Gemeinschaft unterhalten. Die Vor- und Nachteile entsprechender Einrichtungen werden aktuell sogar wissenschaftlich erforscht – in der Hoffnung, die Schlüsse auf andere Projekte übertragen zu lassen, die urbane Lebensräume mit Geselligkeit füllen wollen.
«Bislang fanden wir stets einen Weg, um Konflikte zu lösen»
Peter Kretschi (77), ein pensionierte Gärtner, ist Mitbegründer des Winterthurer Gemeinschaftsgartens Mattenbach – und der «Silberrücken» der 12-köpfigen Gruppe. Er trägt seinen grossen Erfahrungsschatz in die Gemeinschaft und bekommt im Gegenzug neue Impulse, weil jüngere Hobbygärtnerinnen und -gärtner andere Ideen in die Gemeinschaft einbringen. «Durch die schiere Grösse unseres Gartens können wir weit mehr Sorten anbauen als in einem kleinen Garten», sagt er: «Damit hat es genug für alle – jeder nimmt, was er braucht. Auch das ist ein Vorteil.» Körperlich schwere Arbeiten, etwa das Fräsen des Bodens, überlässt er den Jungen. Jeden Donnerstagabend und Samstagmorgen arbeiten die Mattenbächler wenn möglich zusammen, doch die Teilnahme ist freiwillig. Das führt mitunter zu Dissonanzen, denn manchmal ist die Absenzenliste gar lang. Dann ist es an der Zeit, zu reden. «Bislang fanden wir aber stets einen Weg, um Zeit- und andere Konflikte zu lösen», sagt Peter Kretschi. Einzelne Gartenpflichten, etwa die Giessarbeit im Sommer, werden den Hobbygärtnerinnen und -gärtnern fix zugewiesen. Alle anderen zu verrichtenden Arbeiten werden in einem Heft festgehalten, es ist das Logbuch der Gemeinschaft. Anstehende Fragen klärt diese einmal pro Monat am Tisch vor dem Gartenhaus. Die Kommunikation erfolgt meist über Whatsapp oder übers Telefon. In der Regel arbeiten die Mattenhöfler autonom.
Welche Wirkkraft entsprechende Projekte haben, zeigt der Gemeinschaftsgarten des Zürcher Mattenhof-Quartiers. Dabei handelt es sich um ein neugeschaffenes Quartier mit riesigen Wohnbauten und unendlich langen Asphaltfluchten. Die Gebäude erstrecken sich über 3,8 Hektaren. Darin leben über 1000 Menschen. Eine Stadt in der Stadt, die auf den ersten Blickunwirtlich scheint. Doch die Anwohnerinnen und Anwohner stemmen sich gegen die Anonymität und liessen sich dafür allerlei Projekte einfallen. Dazu zählt auch ein Gemeinschaftsgarten, der am Rand der Siedlung liegt und von über 20 Hobbygärtnerinnen und -gärtnern in Schuss gehalten wird, so auch von Daniel Müller. Der 69-Jährige, ein erklärter Naturfan, zog vor fünf Jahren in die Brache. «Der Garten bedeutet mir enorm viel. Durch ihn komme ich mit andern in Kontakt und in Austausch, das schätze ich sehr», sagt er. Im Gegenzug könne er andern sein gesammeltes Gartenwissen anbieten: «Denn viele Mitgärtnerinnen und Mitgärtner stehen am Anfang. Eine Win-win-Situation, die das Quartierleben enorm bereichert – und damit mein Leben.» Vor allem das Zusammentreffen mit Jüngeren schätzt er sehr: «Denn wo sonst sollte ich mit ihnen in Kontakt kommen?»
Gut zu wissen
Sie möchten in einem Gemeinschaftsgarten mitwirken oder suchen Interessierte, mit denen Sie Ihr Paradies künftig zusammen bestellen möchten? Hier zwei hilfreiche Online-Adressen:
- www.horterre.ch: Auf dieser Website können Gartenfreunde ihre Reiche kostenlos zur Mitarbeit anbieten – interessierte Hobbygärtnerinnen und -gärtner wiederum finden hier allenfalls Privatgärten, in denen sie mitwirken können. Der Initiantin dieser Plattform ist es ein Anliegen, der Natur gemeinsam Sorge zu tragen.
- www.stadtwurzel.ch: Hier finden Sie eine Übersicht nahezu aller Schweizer Gemeinschaftsgärten: von Basel bis Genf. Zu finden sind diese unter dem Stichwort «urbane Gärten».
Im Grunde genommen ist ein Gemeinschaftsgarten nichts anderes als gelebte Demokratie. Die darin wirkenden Menschen müssen ihre Ziele aushandeln, die verschiedenen Interessen gegeneinander aufwiegen und die Spielregeln des Miteinanders aushandeln. Die ersten Anlagen sind in den 1970ern denn auch in Grossstädten entstanden, allen voran in New York. «Durch die Arbeit in solchen Einrichtungen verändert sich die Beziehung zu sich selber, zu anderen, zur Natur», bekräftigte Bastiaan Frich, Biologe und Vorstandsmitglied von Urban Agriculture in Basel, dem national wichtigsten Schweizer Vertreter naturnaher und nachhaltiger Kooperativen. Urban Agriculture, ein gemeinnütziger Verein, hat ein beachtliches Netzwerk rund um die Rheinstadtgespannt. 60 Naturprojekte gehören dazu, darunter 15 Gemeinschaftsgärten. So überzeugend all die Vorteile und Ideologien sind – manchmal sind sie auch ein Minenfeld für Konflikte. Meist reiben sich Gemeinschaftsgärtner nicht an grossen Fragen, die sind in der Regel in den jeweiligen Statuten geklärt: etwa, welche Pflanzen nach welchen Regeln gepflanzt werden: bio, naturnah etc. Der gärtnerische Alltag aber kann Gemeinschaften spalten. Muss jede Entscheidung das Kollektiv treffen? Wie tauscht man sich aus, wenn man sich in der Regel nur einmal in der Woche zur Arbeit trifft? Dürfen die Fleissigsten den Lead übernehmen? Mattenbach-Gärtnerin Tamara Roost lacht. «Manchmal geht es darum, ob man Schnecken töten oder leben lassen soll.» Falls es donnert und kracht, hilft eines immer: zusammen reden. Und Toleranz. «Gell Peter, bislang haben wir noch immer einen Konsens gefunden.» Sagts, greift zur Hacke und lockert die Erde in einem der Beete. Die Pflichten des Gemeinschaftsgarten rufen.
In vielen Gemeinschaftsgärten wirken Alt und Jung zusammen. Wie die beiden Generationen voneinander profitieren, wo die Glanz-und Konfliktpunkte des Zusammenwirkens liegen, erfahren Sie in unserem Generationen-Gespräch.
Hinter den HEKS-Hecken
Das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) unterhält schweizweit über 30 interkulturelle Gärten. Darin sollen Immigrantinnen und Immigranten ein Stückchen Heimat finden – so auch in Biel, wo Menschen aus neun Nationen zusammenfinden.
Wer selbst einen Hobbygarten besitzt, weiss es aus Erfahrung: Die Arbeit in der Natur tut Körper und Psyche gleichermassen gut. Auf diese (Heil-)Kräfte vertrauen auch die Verantwortlichen der HEKS, das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Sie richteten vor gut zehn Jahren schweizweit über 30 interkulturelle Gärten für Menschen ein, die aus ihren Heimatländern flüchten mussten und sich hierzulande oft verloren fühlen. Durch das Wirken in den Gemeinschaftsgärten sollen diese Menschen schneller Wurzeln schlagen. «Der Gemüseanbau ist für uns nur Mittel zum Zweck», sagt Lea Egloff, Programmleiterin HEKS «Neue Gärten Bern»: «In unseren Gärten geht es um weit mehr: um das Zusammensein, den Austausch, um Integration. Das Prinzip ist einfach – aber es wirkt.»
Im Bieler HEKS-Garten arbeiten Menschen aus neun Ländern. © Pedro Rodrigues
Das durfte unter anderem auch Jwan Al Youssef (55) erfahren. Der Syrer kam vor knapp zehn Jahren in die Schweiz, sass zuvor lange als politischer Aktivist im Gefängnis. Schon am ersten Tag nach seiner Flucht stand er im 300 Quadratmeter grossen HEKS-Garten in Biel. Dieser liegt vor dem ehemaligen Pfarrhaus der Paulus-Kirche und umfasst zehn Beete. Hier lernte er Sprache, Kultur und Gleichgesinnte kennen. Später fand er durch Kontakte derfreiwilligen Helfer, die in diesen Einrichtungen traditionell mit anpacken, sogar Arbeit. Heute ist er für eine Stiftung tätig und leitet im Nebenamt den Bieler Gemeinschaftsgarten. «Ich will die Hilfe, die ich selbst erfahren durfte, an andere weitergeben», sagt er.
Aktuell arbeiten im Gemeinschaftsgarten 25 Menschen aus neun Nationen. Die Vielfalt ist auch in den Beeten auszumachen. Statt Erbsli wachsen darin Puffbohnen, statt Lauch Süsskartoffeln. Sieben freiwillige Helfer packen mit an, denn nicht alle Migrantinnen und Migranten verfügen über entsprechende Vorkenntnisse. Jeden Mittwochnachmittag wird zusammen gewässert, gejätet und geerntet. Unter der Woche steht der Garten weit offen, damit die Teilnehmenden im Schatten der mächtigen Obstbäume mit Freunden und Familie das Leben besprechen oder gar feiern können.
«Wir sind eine grosse Familie», sagt Jwan Al Youssef. Zahra (61) ist erst vor knapp einem Monat zur bunten Gemeinschaft gestossen. Die Iranerin lebt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern seit vier Jahren in Biel, hat aber erst vor kurzem vom HEKS-Projekt erfahren. Obwohl sie kaum Erfahrung mitbrachte, gedeihen in ihrem Beet Tomaten, Gurken und ganz viel Dill, das National-Gewürz ihrer Heimat. «Ich war einst krank vor Sorgen», sagt die Frau und atmet tief durch: «Hier im Garten aber habe ich neuen Mut und neue Freunde gefunden. Was für ein Jammer, dass ich nicht schon früher hierhergefunden habe.»
Wer das Projekt «HEKS Neue Gärten» finanziell unterstützen will: Lea Egloff, Programmleiterin HEKS «Neue Gärten Bern», hilft weiter: lea.egloff@heks.ch
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