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Wenn der Lebensweg zu Ende geht

Corona macht Sterben und Tod allgegenwärtiger. Der Ethiker Heinz Rüegger und der Palliativmediziner Roland Kunz setzen sich in ihrem neuen Buch «Über selbstbestimmtes Sterben» mit dem Lebensende auseinander. Im Interview geben sie Antworten auf drängende Fragen.

Interview: Usch Vollenwyder

Hat unsere Gesellschaft verlernt, dass das Leben gefährdet und begrenzt ist?
Roland Kunz: Wir haben es nicht nur verlernt, sondern auch verdrängt. Betroffene und Angehörige können dank einer hochspezialisierten Medizin auf immer noch neue Therapien und Eingriffe hoffen. Die Ärzteschaft ist meist ebenfalls bereit, den Tod möglichst lang hinauszuschieben. So wird der Gedanke an das Sterben nie richtig konkret, und die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit bleibt erspart.
Heinz Rüegger: Natürlich weiss man theoretisch, dass das Leben verletzlich ist und jederzeit zu Ende gehen kann. Doch wir leben in einer enormen Mach-Kultur, in der wir alles im Griff zu haben meinen. Dabei widerfahren uns auch Dinge, die wir nur aushalten und zulassen können – zum Beispiel eine schwere Krankheit. Sie ist wie ein Ball, den uns das Schicksal zuspielt, weder gesucht noch gewollt. Entscheidend ist, wie wir diesen Ball annehmen und mitspielen. 

Was sagen Sie unheilbar kranken Patientinnen und Patienten, die mit dem Tod konfrontiert sind?
Roland Kunz: Wichtig sind genug Zeit für die nötigen Informationen und klare Worte. Ich sage: «An dieser Krankheit werden Sie sterben. Den Weg bis dorthin schauen wir gemeinsam an. Wie wollen wir diesen Weg gehen? Möchten Sie vor allem noch das machen, was Ihnen wichtig ist? Oder wollen Sie sich auf den Kampf gegen die Krankheit konzentrieren und dadurch eventuell Zeit für anderes verlieren?

Wie reagieren die Betroffenen? 
Roland Kunz: Die einen steigen gerne auf diese Überlegungen ein. Andere sagen, sie seien ihr Leben lang Kämpfende gewesen und würden auch jetzt kämpfen bis zuletzt. Meist beginnt ein Prozess und irgendwann tauchen Fragen auf: Was bleibt mir in meinem Leben? Nur noch die Nebenwirkungen der Therapie? Fehlt mir die Energie für anderes, vielleicht wichtigeres? Dann reift oft die Einsicht: Vielleicht ist es doch nicht mein Weg, die letzte Kraft in einen Kampf zu stecken, den ich nur verlieren kann.

Welche Rolle spielen die Angehörigen? 
Heinz Rüegger: Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass Kranke erst sterben können, wenn die Angehörigen es zulassen. Deshalb ist das Gespräch so wichtig. Darin dürfen auch Betroffenheit und Trauer Platz haben, doch Angehörige müssen sich bewusst sein: Bei diesen letzten Entscheidungen geht es um ihr Familienmitglied und nicht um ihr eigenes Befinden. Ihre Aufgabe ist es, zu begleiten und den gewählten Weg zu akzeptieren. Von erwachsenen Menschen ist zu erwarten, dass sie mit einer solchen Herausforderung umgehen können.  
Roland Kunz: Das ist nicht immer so. Für Menschen aus anderen Kulturen ist es oft ein Akt der Ehrerbietung, für ihre alten Eltern auch noch die letzten medizinischen Therapien zu wünschen. Ich erlebe aber auch längst erwachsene Söhne und Töchter, die sich davor fürchten, nach dem Tod eines Elternteils allein durchs Leben gehen zu müssen. Aus Angst fordern sie immer noch weiterreichende Massnahmen und können das Wohlergehen ihres Angehörigen oft gar nicht mehr wahrnehmen. In dieser Situation fällt dem medizinischen Personal eine wichtige Rolle zu: Es kann den Boden ebnen, damit echte Gespräche möglich werden.

Mit Corona kommt das Sterben näher. Merken Sie etwas davon?
Roland Kunz: Es bewegt sich viel. Was ich selber erlebe und von Kolleginnen und Kollegen höre, ist der Wunsch vieler hochaltriger Menschen bei einer Covid-19-Erkrankung lieber in ihrem Alters- oder Pflegeheim bleiben zu dürfen, als in ein Spital eintreten zu müssen. Das hat bestimmt auch mit der verbesserten Information zu tun: Hochbetagte Menschen, die auf einer Intensivstation beatmet werden müssen, haben nur eine sehr kleine Chance auf Genesung. Dieses Wissen führt dazu, dass sie sich Gedanken über eine Erkrankung und den möglichen Tod machen und ihre Wünsche vermehrt auch ausdrücken.

Dabei sollte das Alter bei einer möglichen Triage – wenn sich die Frage stellt, wer ein letztes freies Intensivbett bekommen soll – kein Entscheidungskriterium sein.
Heinz Rüegger: Das wäre ethisch tatsächlich problematisch. Die Richtlinien halten fest, dass diejenige Person die Intensivpflege bekommt, welche die besseren Chancen auf Heilung hat. Natürlich hängt dieses Kriterium auch mit dem Alter zusammen. Und wann, wenn nicht im hohen Alter, soll man denn sterben? Das Leben ist doch so angelegt, dass es irgendwo, irgendwann und an irgendetwas zu Ende geht – an Krebs, an einem Hirnschlag oder jetzt an Covid-19. Auch in einer Grippephase sterben mehr alte Menschen als in grippefreien Zeiten. Wichtig sind eine gute, achtsame und sorgfältige Begleitung und palliative Betreuung. Ich finde es sehr problematisch, wenn ein Pflegeheim mit relativ vielen Todesfällen als schlechtes Heim gilt. 
Roland Kunz: Die Angst davor hat dazu geführt, dass viele Heime die Vorgaben der Behörden noch strenger ausgelegt haben als sie vorgesehen waren. Der Weg, um jeden Preis Infektionen zu verhindern, hat ganz viel Leid verursacht – Depressionen, Isolation, der Verlust von wichtigen sozialen Kontakten … Solche Vorschriften will heute niemand mehr. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass bei alten mehrfach erkrankten Menschen dieses Virus das Tröpfchen ist, welches das Fass zum Überlaufen bringt: Sie akzeptieren die Möglichkeit, daran zu sterben. Andere kämpfen nach wie vor um ihr Leben und beanspruchen selbst Intensivpflege. Auch das gehört zu einem selbstbestimmten Lebensende. 

Selbstbestimmung wird in der Öffentlichkeit immer noch mit Exit gleichgesetzt. Warum ist das so?
Heinz Rüegger: In der Öffentlichkeit, in den Medien und selbst in der Literatur wird Selbstbestimmung tatsächlich meist mit Suizid gleichgestellt. Als wäre Suizid der Inbegriff von Selbstbestimmung! Dabei ist er ein Randphänomen: Nur gerade anderthalb Prozent aller Sterbefälle gehen auf einen assistierten Suizid zurück. Doch in sechzig Prozent geht eine bewusste Entscheidung voraus, Patientinnen und Patienten müssen zwischen verschiedenen medizinischen Optionen wählen. Auch der Entscheid, nichts mehr zu tun, ist ein Entscheid – denn die Medizin hat fast immer noch eine weitere Therapie im Angebot. 
Roland Kunz: Gerade weil die Mehrheit der Patientinnen und Patienten erst nach medizinischen Entscheidungen stirbt, ist es so wichtig, dass man über seine Wünsche für das Lebensende spricht. Viele glauben, dass einem das Schicksal die Entscheidung abnimmt. Doch das Schicksal ist heute die Ärzteschaft oder die Angehörigen. Wo der eigene Wille nicht mehr ausgedrückt werden kann und keine Patientenverfügung vorliegt, fällt den Angehörigen diese Aufgabe zu. Dann müssen sie über die weitere Therapie oder deren Abbruch bestimmen. 
Heinz Rüegger: Es gibt auch Fachleute, die plädieren für die Freiheit, nichts planen zu müssen und das Ende auf sich zukommen zu lassen. Doch so wird die Verantwortung einfach weiterdelegiert. Und wer möchte eine Entscheidung, die er selber als schwierig empfindet, einfach seinen Kindern oder dem Partner oder der Partnerin zumuten? Meiner Meinung nach gehört es zur moralischen Verpflichtung von uns aufgeklärten Menschen, dass wir diese Entscheidung nicht einfach anderen überlassen.

Auf welche Ressourcen können sterbende Mensch zählen?
Roland Kunz: Im Waidspital fragen wir die Eintretenden, was ihnen während ihres Lebens Halt gegeben hat. Viele fühlen sich von ihrem Glauben gerade auch in schwierigen Situationen getragen. Eine andere Ressource ist der Rückblick auf ein gutes Leben: Wer sein Leben als reich und ausgefüllt empfindet, ist meist zufrieden und kann akzeptieren, dass der Kreis sich schliesst. Wer bis zuletzt überzeugt ist, dass er ein Leben lang zu kurz gekommen ist, hat eher Mühe beim Gedanken an den bevorstehenden Tod. 
Heinz Rüegger: Eine wichtige Ressource sind auch Beziehungen. Es braucht Menschen, die einem als Gesprächspartner und -partnerinnen zur Verfügung stehen und begleiten. Die Zeit, ein offenes Ohr und ein grosses Herz haben. Die mich auf meinem letzten Weg nicht zurückhalten und auch nicht vorwärts schieben, sondern mir helfen, ihn zu finden und zu gehen.

Heinz Rüegger, Dr. theol., Theologe, Ethiker und Gerontologe, ist seit seiner Pensionierung freiberuflich als Referent, Autor und Berater sowie als freier Mitarbeiter des Instituts Neumünster in Zollikerberg tätig. www.heinz-rueegger.ch

Roland Kunz, Dr. med. leitete bis im Frühling 2020 die Klinik für Akutgeriatrie sowie das Zentrum für Palliative Care im Stadtspital Waid und Triemli Zürich. Er ist Dozent für Palliative Care an der Universität Zürich und an der ETH. kunz.rol@bluewin.ch

«Über selbstbestimmtes Sterben»

Buchcover: Ueber selbstbestimmtes Sterben.

© zVg

Buch: Heinz Rüegger und Roland Kunz, «Über selbstbestimmtes Sterben. Zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung» Rüffer & Rub Sachbuchverlag, Zürich 2020, 205 S., ca. CHF 28.–.

Das Buch «Über selbstbestimmtes Sterben» wurde in der November/Dezember-Zeitlupe vorgestellt.

Beitrag vom 17.11.2020
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