Helge Timmerberg: «Ich war dem Tod schon näher»
Helge Timmerberg verdiente sein Geld mit Abenteuern: Er meditierte im Himalaja, wanderte durch den Amazonas, probierte Drogen und schrieb darüber. Heute ist der Journalist und Autor über siebzig. Ein Gespräch über das Alter, die Reue und Ritter-Sport-Schokolade.
Interview: Maximilian Jacobi, Fotos: Christian Senti
Helge Timmerberg, Sie haben zahlreiche Texte über Ihre Drogenerfahrungen geschrieben. Welche Substanz empfehlen Sie Menschen ab sechzig?
Gras, denn THC stärkt das Immunsystem, das zeigen viele Studien. Ausserdem stärkt es die Sehkraft, die Haare. Aber das können Sie alles in meinem Buch «Joint Adventure» nachlesen.
Wollen Sie noch etwas zur optimalen Dosierung sagen?
Im Zweifel lieber zu wenig, denn Kiffen verstärkt Sinne und Gefühle. Und wer zu viel erwischt oder in einer stressigen Umgebung kifft, wird schnell paranoid. Aber das Schreckgespenst Paranoia verschwindet, sobald die Wirkung nachlässt. Gras galt früher als Einstiegsdroge. Das ist Unsinn. Höchstens als Einstiegsdroge für Ritter Sport, weil Schokolade dann so gut schmeckt.

«Für die Sprache, die Geschichten – dafür habe ich alles getan.»
Aber Sie nehmen doch auch harte Drogen?
Davon bin ich seit über 25 Jahren weg.
Was nahmen Sie zuletzt?
Koks. Das ist gefährliches Zeugs. Weil es so was von asozial macht. Ich war nur Ego.
War das während Ihrer zwei Jahre in Havanna?
Ja, ich war da neun Monate mit meiner kubanischen Freundin zusammen, die stand auf Koks. Ich zog mit. Es veränderte meine Texte, die ich damals nach Deutschland faxte. Ich fing an, bösartig über Menschen zu schreiben. Das hatte ich davor nie getan, ich war immer ein Menschenfreund. Und eines Abends in einer Bar hatte ich diesen Moment der Klarheit. Dort stand ein Kubaner, fröhlich und nett. Doch ich dachte nur noch: Gleich will er eine Zigarette. Dann will er einen Drink. Dann bittet er mich um Geld, dann um einen Kühlschrank. Da sagte ich mir: Mit dem Zeugs hörst du sofort auf.
Warum?
Ich glaube, wir Menschen sind immer beides: gut und böse. Wir entscheiden, auf welche Seite wir uns konzentrieren wollen. Dadurch verstärken wir auch die jeweilige Seite unseres Gegenübers. Und Koks bringt die bösen Seiten zum Vorschein.
Fiel Ihnen das Aufhören schwer?
Nein. Nur meine Freundin hat mich sofort verlassen.
Das tut mir leid. Aber Kiffen hat keine solchen Auswirkungen?
Kiffen ist ganz anders, es fördert die Empathie. Aber ich will nicht mehr der grosse THC-Prophet sein. Dafür kenne ich zu viele Nachteile.


«Was hilft die Erinnerung an ein Festmahl, wenn du Hunger hast?»
Welche denn?
Viele Freunde hörten auf, weil sie auf Gras nur noch grübeln. Die machen sich dann Sorgen über Sorgen.
Ihnen passiert das nicht?
Nein, ich bin recht ausbalanciert, weil ich jeden Morgen eine Stunde meditiere.
Bereuen Sie denn nichts in Ihrem Leben, über das Sie grübeln könnten?
Jeder, der 70 ist, guckt auf ein Leben zurück, in dem er extreme Fehler gemacht hat. Der Segen des Alters stellt sich nur ein, wenn man damit in Frieden kommt.
Sie waren viel unterwegs. Bereuen Sie, so wenig Zeit mit Ihren Kindern verbracht zu haben?
Wenn ich schlecht drauf bin, habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen – auch wenn ich heute ein gutes Verhältnis zu meinen Kindern habe. Aber ich bin da auch vom Schicksal hineingepusht worden. Ich war damals Lokalredakteur in Wolfenbüttel. Mit meiner Frau hatte ich zwei Töchter, als sie mir sagte, dass sie sich in einen anderen Typen verliebt habe. Sie wollte das ausleben und gleichzeitig mit mir zusammenbleiben. Doch ich bin in einen Liebeskummer gerauscht, das war nicht mehr zu halten und ich zog nach Hamburg. Ich war zu unreif. Dann ging die Reisephase los. Ich war eben auch sehr ehrgeizig. Für diese Leidenschaften, die Sprache, die Geschichten – dafür habe ich alles getan.
Und, können Sie sich Ihre Fehler verzeihen?
Einerseits weiss ich, dass ich damit in Frieden kommen muss. Denn A: Ich bin, wie ich bin. Und B: Ich wusste es damals nicht besser. Aber das In-Frieden-Kommen ist abhängig von der Tagesform. Mal gelingt es, mal weniger.
Vor Kuba lebten Sie in Marrakesch, trampten nach Indien, bereisten die Welt. Sie haben sich ausgelebt. Macht es das Alter erträglicher, zu wissen, dass Sie Ihre Zeit ausgekostet haben?
Das sagen mir viele Leute: «Du hattest ein reiches Leben, davon kannst du zehren». Aber was hilft dir die Erinnerung an ein Festmahl, wenn du Hunger hast? Meine glorreiche Vergangenheit hilft mir null. Aber von Menschen, die sich mit Todkranken beschäftigen, weiss man ja, dass Sterbende vor allem die Dinge bereuen, die sie nicht getan haben. Aus Angst, Vorsicht, Vorsorge. So gesehen habe ich wenig zu bereuen.
Stimmt, alles erledigt. In Ihrem neusten Buch «Bon Voyage» fragen Sie sich dafür: «Habe ich mittlerweile keine Träume mehr? Mir fällt auf Anhieb keiner ein.» Hat man nach so einem Leben noch Träume übrig?
Ja, das ist ein trauriges Thema. Mein Gott. Wie habe ich früher von Reisen geträumt … Was ich mir alles vorgestellt habe … Wie es mir gehen wird, wenn ich da und dort bin … Das ist völlig weg.
Ist das nicht auch befreiend?
Vielleicht. Ich fühle mich teilweise schon freier heute. Auch freier vom Ehrgeiz – ich muss nicht mehr unbedingt der beste Schreiber sein. Freier von sexuellen Leidenschaften – mit dreissig brauchte ich täglich Sex, heute noch einmal im Monat.
Was fühlt sich für Sie freier an: alt sein, weniger machen können, aber auch weniger wollen? Oder jung sein, also alles tun können, aber geritten werden von Leidenschaften?
Auch wenn die Antwort unter Verdacht steht, nur Positive Thinking zu sein: Ich fühle mich heute in vielen Dingen freier. Ich glaube, die grösste Unfreiheit ist diese Selbstversklavung durch Leidenschaften.
Aber haben Sie echt überhaupt gar keine Träume mehr? Das klingt so traurig …
Nicht mehr von Reisen. Aber wenn Sie so fragen: Doch, ich träume davon, mit mir selbst in Frieden zu kommen. Und von einem sanften Sterben. Nicht wie mein Vater.
Wie war der Tod Ihres Vaters?
Heftig. Ganz, ganz heftig. Erst ist seine Frau gestorben, das hat ihn geschockt. Er baute ab, ass nicht mehr, bekam einen Schlaganfall. Dann musste er ins Pflegeheim. Sein ganzes Leben war er selbstbestimmt, der König seines Hauses, ein Macher. Und plötzlich wurde er wie ein Kind behandelt: «Nein, Herr Timmerberg, jetzt gehen wir schön ins Bett.» Es wurde immer schlimmer. Weil er nachts den Urin nicht mehr halten konnte, rutschte er darin aus, wenn er aufstand. Deswegen musste er in ein Gitterbett, aus dem er nicht selbst rauskam, wie ein Kleinkind. Es dauerte ein Jahr, bis er endlich tot war.
In Ihrem Buch übers Älterwerden schreiben Sie: «Nach dem Tod meiner Eltern rückte ich auf dem Fliessband zum Sensenmann an die erste Stelle.» Fühlen Sie sich dem Tod nah?
Ich war dem Tod schon näher.
Wann?
Als ich im brasilianischen Regenwald dem Jaguar begegnete. Eigentlich begegnete ich ihm sogar zweimal.

«Ich möchte sanft sterben. Nicht wie mein Vater.»
Erzählen Sie.
Für eine Reportage reiste ich zu Goldsuchern am brasilianischen Rio Negro. Schon auf der Reise zu deren Siedlung faszinierten mich die Typen auf dem Boot, alles so Anarchisten, das war Wild West. Sie erzählten von einem anderen Ort, wo das meiste Gold gefunden wird, wohin man aber zwei Wochen durch den Regenwald wandern muss. Ich dachte: «Okay, dann komm ich mit.» Auf einer Lichtung zelteten die Goldsucher, warteten, sammelten sich, bis sie genug waren, um die Reise zu wagen. Ich wollte mich waschen und lief über eine Lehmpiste zu einem Teich, überlegte es mir dort aber anders, wegen der Krokodile. Auf dem Rückweg sah ich, wie zwanzig Meter vor mir ein grosser Hund mit Katzenkopf aus dem Wald auf die Lehmpiste lief. Er sah mich an, ich sah ihn an. Mein Glück war, dass ich nicht checkte, dass das ein Jaguar war. Ich hatte keine Angst, rannte nicht davon. Er sah wieder weg und ging in den Wald. Erst dann wurde es mir klar. Im Lager erzählte ich es den anderen. Die sind ausgeflippt. Wer Waffen hatte, rannte in den Wald, schoss und schrie rum, um ihn zu verjagen. Von da an verliess niemand mehr die Gruppe, auch nicht zum Pissen.
Und die zweite Begegnung?
Als die Wanderung losging, teilte sich die Gruppe auf. Drei Leute luden die Ausrüstung und Nahrung in ein Kanu und fuhren den Fluss rauf. Die restlichen neun machten die erste Tagesetappe zu Fuss. Ich fuhr im Kanu mit. Doch wir erreichten die Landestelle recht spät. Wir mussten unser Nachtlager aufschlagen, bevor wir zu den anderen stossen konnten. In der Nacht weckte mich ein Goldsucher, Angst im Gesicht. «Onça, onça», sagte der immer. Das heisst Jaguar. Dann hörte ich es. Knurren und Fauchen aus der Dunkelheit um uns. Er wollte meine Pistole. Jeder dort, der Geld hatte, hatte eine Pistole. Ich nicht. Alle drei setzten wir uns Rücken an Rücken, die beiden mit ihren Macheten. Mir gaben sie Topf und Pfanne, um Lärm zu machen. Als ich dort sass und Topf und Pfanne aufeinanderschlug, da schwor ich mir: «Wenn ich das überlebe, werde ich alles ändern, dann kümmere ich mich um meine Kinder.» Ich habe überlebt, aber nichts geändert.
Haben Sie sich dafür schon mal überlegt, was auf Ihrem Grabstein stehen soll?
Nee, da brauche ich noch ein bisschen Zeit. Von den Genen her habe ich Zeit, meine Mutter wurde 94.
Nahm Ihre Mutter auch Drogen?
Ja, nur kamen die aus der Apotheke. Und sie hat gerne getrunken.
Sie kiffen täglich – auch wenn THC positive Auswirkungen hat, das geht doch auf die Lunge? Und während unseres Gesprächs haben Sie mindestens fünf Zigaretten geraucht.
Dazu habe ich eine Geschichte. Vor einem Jahr etwa ging ich zum Arzt. Das Erste, was er sagte: «Sie rauchen, und das richtig viel.» Ich fragte: «Woher wissen Sie das?» Er rieche es, sagte er. Also röntgte er meine Lunge. Er war richtig frustriert, weil er nichts fand. «Aber das heisst nicht, dass Sie jetzt noch mehr rauchen sollen», sagte er. Und ich so: «Noch mehr rauchen, wie soll das denn gehen?»
Zur Person
- Timmerberg wuchs in Bad Oeynhausen in Deutschland auf. Mit 17 Jahren trampte er von London nach Indien. Als er dort in einem Kloster meditierte, soll ihm eine Stimme gesagt haben: «Geh nach Hause. Und werde Journalist.»
- Es folgte ein Volontariat bei der «Neuen Westfälischen Zeitung», später arbeitete er für Magazine wie «Stern», «Playboy» und «Tempo».
- Seine Texte hält er subjektiv und unterhaltsam – im Stil des sogenannten New Journalism, zu dessen namhaftesten Vertretern er im deutschsprachigen Raum zählt. Mittlerweile schreibt er vor allem Bücher und gibt Lesungen.
- Seine jüngsten Bücher widmete er unter anderem dem Marihuana-Konsum und dem Älterwerden. Timmerberg lebt in St. Gallen.
Viermal Timmerberg
Futter fürs Fernweh
«Der Jesus vom Sexshop» vereint Geschichten aus aller Welt. Ob sie nun von Nordkoreas Geheimdienst handeln, von Busfahrten durch die Wüste oder der Goldsuche im Amazonas – die Texte schicken Lesende auf Weltreise. Gemütlich bleibt es dabei selten.
«Der Jesus vom Sexshop. Stories von unterwegs»; Rowohlt; ca. Fr. 26.–
Exzess und Absturz
In seiner Autobiografie «Die rote Olivetti» erzählt Helge Timmerberg aus seinem Leben. Von seiner ersten grossen Reise nach Indien. Vom Straucheln als Gastronom. Von Höhenflügen in Marrakesch und Havanna. Und von den dunklen Tälern dazwischen. Mal ernster, mal spassiger, immer schonungslos.
«Die rote Olivetti. Mein ziemlich wildes Leben zwischen Bielefeld, Havanna und dem Himalaja»; Piper; ca. Fr. 23.–
Über das Altwerden
In «Lecko mio» denkt der 70-Jährige über das Alter nach. Was bleibt von einem Weltenbummler und Casanova, wenn Abenteuerlust und Libido schwinden? Was bedeutet es, wenn die eigenen Eltern sterben? Und wie kommt man mit seinem Leben ins Reine? Schwere Fragen, auf die das Buch mit leichten Antworten kontert.
Lecko mio. Siebzig werden; Piper; ca. Fr. 20.–
Marokkanisches Roadmovie
In «Bon Voyage» fährt Helge Timmerberg «mit Papas Benz bis nach Marokko». Es beginnt als Genussreise mit zwei Regeln: 1. Nie mehr als vier Stunden fahren. 2. Die Dunkelheit meiden. Beide Regeln werden bald gebrochen. Und sobald Timmerberg ausgeraubt und mit zerstochenem Reifen am Strassenrand steht, wird klar: Allzu genussvoll wird das nicht.
Bon Voyage. Mit Papas Benz bis nach Marokko; Malik; ca. Fr. 30.–
«Für die Sprache, die Geschichten – dafür habe ich alles getan.»
«Was hilft die Erinnerung an ein Festmahl, wenn du Hunger hast?»