
Auf der Suche nach dem Winter
Kälte, Schnupfen, verspätete Busse: Keine Jahreszeit fordert uns so sehr wie der Winter. Und dennoch – oder gerade deswegen – ist er die romantischste Zeit des Jahres. Mit und ohne Schnee.
Interview: Yvette Hettinger
Endlich kommt Amanda in ihrem Ferienhäuschen in England an. Rutschend und schimpfend hat die Kalifornierin ihren Koffer durch die verschneite Landschaft geschleppt. Drinnen ist es kuschelig und irgendwann auch warm. Mit Cheminéefeuer, Musik und Rotwein macht es sich Amanda gemütlich, um die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage gut zu überstehen. Sie ahnt nicht, dass die grosse Liebe quasi vor der Haustüre wartet, um bald darauf mit ihr Silvester zu feiern. So geschehen im Weihnachtsfilm «The Holiday». Hollywood weiss, wie es geht.
Schneetage werden seltener
Wir wissen, dass die Realität im Schweizer Mittelland ernüchternd anders aussieht. «Die Vorfreude auf den Winter ist meistens schöner als der Winter selber», sagt mein Sohn. Weil weisse Weihnachten oft Wunschdenken bleiben?
Ich frage beim WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos GR nach. «Deutlich weniger als die Hälfte der Weihnachten im Mittelland sind weiss», sagt Klimatologe Christoph Marty, «das ist schon seit Jahrzehnten so.» Und er fügt hinzu: Schneetage werden insgesamt noch seltener werden. Wegen des Klimawandels.
In meiner Sehnsucht nach Schnee bespraye ich Anfang Dezember meine Fenster mit weissem Schaum in Mustern von verschneiten Landschaften. Werfe glitzernde Plastikflocken zwischen die Adventskerzen, hänge elektrische Leuchtgirlanden auf und platziere zahllose Kerzen in der Wohnung. Fortan freue ich mich irgendwie auf die Dämmerung, denn tagsüber kommt das ganze Bling-Bling nicht zur Geltung. Eher erinnert mich die Wintersonne daran, dass die Fenster mal wieder geputzt werden wollen. Ich mache mich auf einen Hundespaziergang, bei 15 Grad, mit Sonnenbrille.

Winterdepressionen sind selten
Damit tue ich unbewusst das Richtige. «Tageslicht hat einen positiven Effekt auf die Stimmung», sagt Carolin Reichert, Psychologin und Chronobiologin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Schläfrigkeit tritt im Winter etwas früher auf, denn mit dem Eindunkeln schüttet der Körper Melatonin – im Volksmund auch Dunkelhormon genannt – aus. Wir schlafen tendenziell mehr und wegen der kühleren Temperaturen möglicherweise auch besser. Umgekehrt kann winterlicher Lichtmangel zu Bedrücktheit führen und im äussersten Fall sogar zu einer Depression, erklärt Anne Guhn, leitende Psychologin an den UPK Basel. Allerdings sind echte Winterdepressionen relativ selten. Und sie sind behandelbar, wie Carolin Reichert erklärt: «Lichtmangel kann man mit Therapielampen ein Stück weit ausgleichen.»
Vermutlich ist die immer mehr überbordende Weihnachtsbeleuchtung in unseren Breiten ein Versuch, präventiv gegen Winterdurchhänger anzugehen. Ich persönlich liebe es, durch beleuchtete Einkaufsstrassen zu ziehen. Manchmal stricke ich gemeinsam mit Freundinnen, oder ich quetsche mich mit Hunderten anderen Menschen in eine Kirche, um Bachs «Weihnachtsoratorium» zu lauschen.
Die volle Kitschdröhnung
Garstige Tage sind aber auch eine willkommene Ausrede, um mich einfach mit einem Buch aufs Sofa zu kuscheln. Das ist wunderbar fürs Gemüt. Aber für den Körper? «Das kann man nicht immer trennen», so Chronobiologin Carolin Reichert, «wenn wir der Psyche etwas Gutes tun, ist das oft auch für den Körper gesund.» Denn die durchs Wohlfühlen produzierten Neurotransmitter sind wichtig für alle möglichen Körperfunktionen.
Also gebe ich mir an einem Samstag im Dezember die volle Kitschdröhnung und besuche den Weihnachtsmarkt auf dem Schloss Wildegg AG. Schon am späten Nachmittag gaukeln die vielen Lämpli einen strahlenden Sternenhimmel vor. Ein Risotto unter freiem Himmel, Jazzmusik aus den Boxen, und ich bin so glücklich, wie man sein kann, wenn man sich grad die Zunge am Glühwein verbrannt hat.
Raclette mit Heinz Rühmann
Echtes Winter Wonderland hingegen findet man jedes Jahr im Engadin. Jeweils zu Weihnachten verbringe ich ein paar Tage bei meiner Mutter, die dort lebt. Wir schwelgen in Erinnerungen und alten Filmen mit Heinz Rühmann oder Conny Froboess. Nach einem Spaziergang in Sonne und gleissendem Schnee gönnen wir uns ein Raclette, gefolgt von Meringue-Schalen mit heissen Beeren und Glace.
Ja, die kulinarischen Freuden, sie sind aus kalten Tagen nicht wegzudenken. Es scheint, als würden wir uns damit neblige und düstere Tage schönessen und -trinken. Schon Mitte September liegen im Supermarkt beim Eingang Weihnachtsguetzli direkt neben den Trauben. Spätestens im Oktober beginnen wir uns mit Vermicelles und Sauser ordentlich Speckreserven zuzulegen, als ob wir uns auf einen Winterschlaf vorbereiten müssten. Doch stattdessen geht es weiter mit Halloween-Schleckzeug und Lebkuchen vom Samichlaus, um zu Weihnachten in deftigen Festessen zu gipfeln. Von Blätterteighäppchen, Prosecco oder Schokolade zwischendurch ganz zu schweigen. Je kürzer die Tage, desto tiefer die Hemmschwelle.

Das liegt am Serotoninkick, wie Psychologin Anne Guhn erklärt. «Wenn wir Kohlenhydrate zu uns nehmen, fördert das die Ausschüttung von Serotonin, das wiederum die Stimmung hebt.» Denselben (aber linienfreundlichen) Effekt hätte auch ein Spaziergang bei Tageslicht, erklärt die Expertin. Kalorien brauchen wir im Winter nicht mehr als sonst, jedenfalls nicht jene Menschen, die in warmen Stuben, geheizten Büros oder wohltemperierten Zügen hocken und höchstens mal etwas unterkühlt reagieren, wenn der Bus wegen Schnees zu spät vorfährt.
Kälte bescherte uns Pommes
Wie viel mühseliger früher alles war, weiss Bernd Brunner. Er hat für sein Buch «Als die Winter noch Winter waren» die Geschichte der kalten Jahreszeit in den letzten Jahrhunderten aufgearbeitet, und dies auf höchst unterhaltsame Weise. Brunner erzählt etwa von einer beschwerlichen Reise Goethes, die vom Wallis über den Furka auf den Gotthard führte. Eine Übernachtung in einem Kloster war nötig, und für das Beheizen des Kachelofens musste das Reisig drei Stunden lang aus dem Tal auf den Berg getragen werden. Wir erfahren von Käfern, die dank eines körpereigenen Frostschutzes bis zu minus 54 Grad Celsius ertragen, und dass der Legende nach Pommes frites um 1650 in Flandern erfunden wurden, um gebratene Fische zu ersetzen – denn diese konnten im vereisten Fluss nicht gefangen werden.
Brunner weiss auch: «Früher war es eine grosse Angst der Menschen, im Winter zu sterben, denn bei zugefrorenem Boden war keine Erdbestattung möglich.» Die Gamechanger sind für ihn die Zentralheizung und funktionale Kleidung. «Damit haben wir den Winter weitgehend bezwungen.» Und zwar so gut, dass angesichts milderer Temperaturen wieder eine Umkehrbewegung stattfinde: «Man vermisst die Kälte und gibt Geld aus, um den Winter wiederzufinden», so der Autor, «wer es sich leisten kann, geniesst die kalte Jahreszeit heute in vollen Zügen.»

In der Tat mutiert der winterliche Alpinsport langsam wieder zum Luxus, und Schnee zum Luxusgut. «54 Prozent aller Skipisten werden heute technisch beschneit», sagt Christoph Marty vom SLF. Nun ist es zwar paradox, Pisten unter Energieaufwand herzurichten und damit den Klimawandel voranzutreiben, aber: «Was ist die Alternative?», fragt Marty, «wenn man stattdessen für einen Tauchurlaub nach Ägypten fliegt, belastet das die Umwelt viel mehr.» Ohnehin stelle die Anreise ins Skigebiet die grösste CO2-Belastung dar.
Leichtigkeit zwischen den Jahren
Nachdem wir also Stimmungsschwankungen, Kälte und Schneemangel einigermassen in den Griff bekommen haben, tasten wir uns wieder an kalte Extreme heran. Wer kann, blättert reichlich Geld hin für Aufenthalte im Eishotel oder Igludorf oder gleich im Norden Europas, in der Hoffnung auf zauberhafte Polarlichter.
Ihren ganz eigenen Zauber haben die Tage «zwischen den Jahren». Wer nicht muss, arbeitet zwischen Weihnachten und Silvester nicht. In meinem Umfeld setzt jeweils eine besondere Leichtigkeit des Seins ein. Das alte Jahr kann weg, das neue wird bestimmt besser. Man trifft sich für Spieleabende oder einfach so, gern für ein Fondue, weil «es git immer en Grund». Man hat gefühlt massenhaft Zeit in dieser Art von Niemandsland.
Doch kurz nach dem 5. Januar tut sich mein persönliches Januarloch auf. Mehr Hüftgold, weniger Geld, unbeleuchtete Einkaufsstrassen, der Frühling noch weit weg. Freunde machen ausgerechnet jetzt auf vegan oder alkoholfrei und sind nicht für fröhliche Apéros riches zu haben.
Und schliesslich fällt der Schnee
An einem besonders trüben Januartag besuche ich meinen Schrebergarten. Im Nieselregen kippe ich den Grünabfall auf den Komposthaufen, schnuppere am blühenden Winterschneeball und pflücke ein wenig Rosenkohl. Der Garten braucht mich jetzt nicht. Aber ich brauche ihn. Ich freue mich über jedes bisschen Grün, das aus der Erde guckt. Leise Frühlingsgefühle machen sich bemerkbar.

Und dann fällt plötzlich der Schnee. In zarten, leichten Flocken schwebt er zu Boden und bleibt sogar liegen. Er hüllt die Welt in Weiss, Stille und Reinheit. Der Himmel leuchtet geheimnisvoll. Es ist ein Abend Ende Januar und alles ist gut.
Wie viele Schneeflocken braucht es für einen Schneemann?
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© iStock
- Eine Schneeflocke schwebt mit ca. 4 km/h zur Erde, Regen mit gut 20 km/h.Schneeflocken bestehen aus Eiskristallen. Ein einzelner Eiskristall setzt sich je nach Grösse aus bis zu 100 Trillionen Wassermolekülen zusammen.
- Für den Bau eines durchschnittlichen Schneemannes braucht es gemäss Schätzungen etwa 100 Milliarden Schneeflocken. Schneemänner hat man schon im 15. Jahrhundert gebaut.
- In Basel (Messstation Binningen) gab es seit 2011 keine weissen Weihnachtstage (24.–26. 12.) mehr. Die Prognosen: Das wird auch bis mindestens 2030 so bleiben.
- In Davos GR waren seit Messbeginn alle Weihnachten weiss, mit Ausnahme des schneearmen Dezembers 2016 – da gab es einen Weihnachtstag ohne Schnee.
- Einsiedeln SZ auf 900 Metern über Meer hatte bis 2010 fast immer Schnee, seither werden die Weihnachtstage immer grüner.
- Die kälteste in der Schweiz je gemessene Temperatur betrug –41.8 °C, in La Brévine NE (1043 m ü. M.), 1987.
- Der Bündner Hotelier Johannes Badrutt hat quasi die Schweizer Skiferien erfunden, als er 1864 englische Gäste in das «Engadiner Kulm» in St. Moritz GR einlud und sie für ihr Kommen bezahlte. Nicht nur hielt er fortan das Hotel ganzjährig offen, im Winter freute er sich auch über den erhöhten kulinarischen Konsum der Gäste.
- Fast 60 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer fahren mindestens einmal pro Jahr in die Winterferien, meist in die Schweizer Berge.
282 Franken für Geschenke
- 2024 gaben Schweizer und Schweizerinnen im Schnitt 282 Franken für Weihnachtsgeschenke aus.
- Last-minute-Weihnachtspakete können bis zum Schalterschluss am 23. Dezember bei der Schweizer Post mit dem Tarif «Swiss Express Mond» verschickt werden und kommen noch am 24. Dezember an.
- Zwischen dem 29. 11. (Black Friday) und dem 24. 12. transportierte die Schweizer Post 2020 die Rekordmenge von 24,1 Mio. Paketen. Der Allzeit-Spitzentag war der 3. Dezember 2024 mit 1,3 Mio. Paketen.
- Gemäss der reformierten Kirche sollte Weihnachtsdeko erst nach dem Totensonntag angebracht werden. Dies ist jeweils der letzte Sonntag vor dem ersten Advent.
- Die Weihnachtsbeleuchtung «Lucy» an der Zürcher Bahnhofstrasse kostet jedes Jahr rund 250’000 Fr. Der Strom macht für die ganze Betriebszeit nur etwa 230 Fr. aus. Das Teuerste ist die Installation der 12’000 Meter Stahlseile und 23’000 LED-Leuchten. Sie findet während drei bis vier Wochen in Nachtarbeit statt.
- Die Stromkrise im Winter 2022 führte in der Schweiz zu regen Diskussionen über Weihnachtsbeleuchtungen. Die Stadt Luzern ersetzte ihre LED-Leuchten mit 500 Laternen und 1500 extra langlebigen Kerzen. Rückmeldungen aus der Bevölkerung zeigten, dass die übliche Beleuchtung aber schmerzlich vermisst wurde.
- In einer Umfrage der Organisation «To Good To Go» im Jahr 2023 gaben 40 Prozent der Befragten an, dass sie mehr Lebensmittel für das Weihnachtsessen einkaufen würden, als sie eigentlich bräuchten. 70 Prozent der Essensreste werden weggeworfen.Im Vergleich zum Jahresdurchschnitt steigt der Absatz von Fleischprodukten im Dezember um rund fünf Prozent. Besonders beliebt sind in dieser Zeit Filet, Fondue chinoise und geräuchertes Schinkli.
- Die weltweit erfolgreichsten Weihnachtsfilme aller Zeiten (nach eingespieltem Geld) sind: 1. «Der Grinch» (Animationsfilm, 2018), 2. «Kevin – allein zu Haus» (1990), 3. «Kevin – allein in New York» (1992), 4. «Der Grinch» (mit Jim Carrey, 2000), 5. Disneys «Eine Weihnachtsgeschichte», 2009.
- Im Vergleich zum Jahresdurchschnitt steigt der Absatz von Fleischprodukten im Dezember um rund fünf Prozent. Besonders beliebt sind in dieser Zeit Filet, Fondue chinoise und geräuchertes Schinkli.
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