
Ein fast unbeschwerter Abend 03. November 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Weltreise auf der Bundeshausfassade.
Es ist eine Tradition: Jedes Jahr treffen mein Bruder, die Schwägerin, mein Mann und ich uns zum «Rendez-vous Bundesplatz» in Bern. Wir beginnen den gemeinsamen Abend mit einem Nachtessen im «Ringgi», dem beliebten Stadtrestaurant am Kornhausplatz. Danach spazieren wir hinüber zum Bundesplatz, wo punkt neun Uhr die Ton- und Lichtshow an der Bundeshausfassade beginnt. Dieses Jahr bereits zum fünfzehnten Mal. Inzwischen hat sich der Anlass etabliert und ist aus dem Novemberprogramm der Stadt nicht mehr wegzudenken. Das letztjährige Lichtspektakel «Volare» lockte weit über eine halbe Million Zuschauende an.
Unter dem Titel «Voyage» geht es dieses Jahr auf eine Reise rund um die Welt – zu Land, Wasser und in der Luft. Sie beginnt in Bern, erstes Etappenziel ist Paris. Durch ein Fernrohr wird der Eiffelturm zum Publikum herangeholt, ein Konfetti-Regen und Papierschlangen in den Farben der französischen Trikolore fliessen über die Bundeshausfassade. Mit ihrer unverkennbaren Stimme singt Edith Piaf dazu die Marseillaise. Zum ersten Mal begleiten Live-Musikerinnen und -Musiker einzelne Passagen der Vorführung. Wie jedes Jahr bin ich auch diesmal fasziniert vom Farbenspiel, das sich zu lebendigen Szenen zusammenfügt. Ich mag sogar die laute Musik, die durch meinen ganzen Körper brummt.
Die Pyramiden von Gizeh, arabische Musik, Wüstensand und Dattelpalmen nehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer mit nach Ägypten. Das Bundeshaus verwandelt sich in den Taj Mahal, Elefanten stampfen über die Fassade, danach wird das Gebäude zu einer thailändischen Tempelanlage. Samba-Rhythmen aus Rio de Janeiro verführen das Publikum zu wippenden Bewegungen, und Frank Sinatras «New York New York» macht aus dem Bundeshaus den von Leuchtreklamen, Konzerthäusern und Bars geprägten Broadway. Über den Atlantik geht die Reise weiter nach London und endet schliesslich wieder in Bern.
Schnell ist die halbe Stunde um. Das Publikum applaudiert. Auf der Heimfahrt geistert die Musik – darunter auch bekannte Melodien – durch meinen Kopf. Ich komme nicht allen auf die Spur. Zu Hause setze ich mich an den PC, finde die Musikliste und stosse auf weitere ergänzende Informationen zu den Aufführungen. Dabei sticht mir ein Zeitungsartikel vom 24. Oktober ins Auge, den ich übersehen hatte: Eigentlich hätte die Reise statt nach Thailand nach Tibet gehen sollen. Doch das hatte die Parlamentsdelegation nicht bewilligt. «Zu politisch» sei das Reiseziel Tibet, zumal es sich um eine Projektion auf «die symbolträchtige Fassade des Parlamentsgebäudes» handle.
Ich bin sprachlos. Eine Reise zu den Sehenswürdigkeiten der Welt gilt als politisch heikel? Warum denn? Haben die Verantwortlichen Angst vor dem mächtigen China? Fürchten sie wirtschaftliche Sanktionen? Um eine Projektion mit tibetischen Gebetsfahnen, dem Himalaja-Gebirge oder dem zum Unesco-Weltkulturerbe gehörende Potala-Palast zu bewilligen, braucht es nicht einmal Zivilcourage. Nur Haltung. Doch selbst die scheint auf der Weltbühne immer seltener zu werden. Der perfekte Abend hat einen leisen Dämpfer bekommen.
        
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