54. Si vis pacem para bellum Aus «Politiker wider Willen»

Als alt Bundesrat Heinz Häberlin am 4. Januar 1935 die Pilets am Scheuerrain besucht, wird er wie immer herzlich empfangen. Beim Essen ist man unter sich und Pilet berichtet seinem Mentor, wie sich die einzelnen Bundesräte in den acht Monaten seit Häberlins Rücktritt «gemacht» haben: «Schulthess sei stets gereizt, sollte nicht mehr [vom Rücktritt] zurückgehalten werden, Etter vielversprechend, Baumann nur Ressortchef, Meyer flott, höchstens in Personalfragen zu wenig durchgreifend, Minger nicht so entgegenkommend, wie ich angenommen hätte.» Angesichts der wachsenden Kriegsgefahr hecheln die beiden Obristen a.D. auch die Armeespitzen durch. Pilet nimmt kein Blatt vor den Mund:

Als General kann er sich nur Guisan denken. Er konstatiert grosse Widerstände gegen Wille. Gegen Bircher hat Pilet merkwürdigerweise keine grossen Bedenken. Er stutzte erst, als ich ihm die meinigen darlegte. Miescher schätzt er nicht hoch ein; Combe solle möglichst bald wieder zum Generalstab zurück. Roost sei physisch erledigt; Borel eine Kreatur Willes.

Geht er, geht er nicht? Der «stets gereizte» Schulthess erhält nicht überall die erhoffte Unterstützung. Der «nicht so entgegenkommende» Minger stösst in der Frage des für ihn sakrosankten Milchpreises mit dem Aargauer zusammen. Schulthess hält eine Senkung für unvermeidlich. Minger zu Schulthess: «Herr Kollege, wenn Sie mit Ihrer Auffassung durchdringen, dann werde ich die Konsequenzen ziehen.» Der Berner ist sicher, dass man ihn nicht «wegen des Milchpreises aus dem Bundesrat ziehen lassen werde».

Minger hat genug von Schulthess und will, dass er geht. Freunde wie Nationalrat Roman Abt oder Karl Weber, der Bundeshausredaktor der NZZ raten dem Aargauer zum Rücktritt. Ebenfalls Grimm, der trotz aller weltanschaulichen Differenzen mit ihm gut auskommt. Am Mittwoch, 13. Februar, reicht Schulthess sein Demissionsschreiben ein. «Diese Nachricht rettet der Wehrvorlage Tausende von Stimmen», schreibt Feldmann in seinem Tagebuch. 

Der Rest des Februars steht im Zeichen der Abstimmung über diese Wehrvorlage, die den Dienst in der Armee verlängert und die militärische Ausbildung neu ordnet. Minger und Pilet legen sich energisch dafür ins Zeug. Als einziger Romand im Bundesrat hält Pilet Reden in Nyon, Montreux, Genf. Im Lausanner Palais de Beaulieu spricht er zu 5000 Personen und zu weiteren Tausenden, die der Direktübertragung am welschen Radio lauschen.

Das Gesetz an und für sich mit seiner Verlängerung der Rekrutenschule um 23 Tage ist, wie Pilet sagt, von geringer Bedeutung – peu de chose –, aber es geht um Grundsätzliches: Sind wir für oder gegen die Armee, für oder gegen die nationale Verteidigung, für oder gegen das Vaterland?

Scharf geht Pilet mit den «Defaitisten, den Faulen, den Nachlässigen» ins Gericht, die predigen, Widerstand sei nutzlos, die glauben, eine militärische Niederlage sei ohnehin unvermeidlich.

Sie haben Unrecht. Die Stärke liegt nicht in der Zahl, sondern im Willen. Dies lehrt uns die Geschichte, dies lehrt uns auch die Bibel. David gegen Goliath, Sieg des Willens des Ersteren über die Masse des Letzteren. Das Beispiel Belgien aus der jüngsten Geschichte: Es hat dem Angreifer, der sein Gebiet durchqueren wollte, Nein gesagt und gekämpft. Es hat verloren, es wurde verwüstet. Heute ist Belgien immer noch da. Es hat sich aufgerichtet und den Respekt und die Bewunderung der Welt erworben.

Für Pilet ist es eine «unwiderlegbare Wahrheit, dass «die Arme die Schweiz gemacht hat».

Ohne Armee wird die Schweiz verschwinden. Dies war so wahr zu den Zeiten von Morgarten und Sempach wie näher bei uns 1870. Damals drückte die französische Ostarmee gegen unsere Grenze. Wenn unsere Bataillone und unsere Geschütze nicht dort gewesen wären, wären die Franzosen zweifellos von den Preussen auf unser Gebiet verfolgt worden, und wir hätten bei uns den Krieg gehabt … Wenn die Armee sich abschafft, bedeutet dies die Invasion. Wir haben diese Geissel am Ende des 18. Jahrhunderts erlebt, als unser Volk durch eine lange Zeitspanne des Glücks geschwächt und verdorben war. Es vertat sich mit internen Zänkereien. Das Ergebnis war, dass Frankreich, Deutschland und dann Russland bei uns eindrangen und unseren Boden zum Schlachtfeld machten.

Fünfzehn Jahre lang haben die Stiefel Europas unsere Felder zerstampft … 1914 hingegen ist man bei uns nicht eingedrungen, weil man unsere Armee fürchtete. Man fürchtete sie en connaissance de cause, nachdem man sie geprüft, beurteilt und beobachtet hatte. Nicht von ungefähr haben die ausländischen Staaten bei uns Militärattachés … Gelegentlich kommt sogar ein Regierungschef vorbei, der in Kenntnis gesetzt werden will, wie wir uns zu verteidigen gedenken. Dies hat Wilhelm II., getan, als er sich den Krieg überlegte.

1914 waren wir bereit. Heute? Seit dem Weltkrieg haben sich die Bedingungen des modernen Kriegs stark geändert.

Man kämpft nicht mehr bloss mit Gewehr und Kanone, sondern mit der Handgranate, dem leichten Maschinengewehr, dem Maschinengewehr, dem Raketenwerfer, der leichten Infanteriekanone, der leichten und der schweren Artilleriekanone, mit dem Auto, mit den motorisierten Truppen, dem Flugzeug, sogar mit dem Gas. Diese komplexen technischen Waffen ungenügend ausgebildeten Truppen anzuvertrauen, wäre, wie wenn man ein Auto einem Neulingschauffeur anvertraut.

Die neue Bewaffnung verlangt Beherrschung der Aufgabe (du métier) von Führung und Truppe. Dem Soldaten kommt mehr Initiative zu, der Unteroffizier und seine Gruppe sind von ihrem Chef unabhängiger als in der Vergangenheit, weil die Verbindungen in einer offeneren Gefechtsordnung schwieriger sind. Deshalb brauchen diese Soldaten Ausbildung wie in allen Berufen, in denen man gute Arbeit leisten will. Es wäre ein Verbrechen, unsere Soldaten in ihrem gegenwärtigen Zustand ausrücken zu lassen, das Schweizervolk will nicht, dass dieses Verbrechen geschieht.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Wollen wir uns einem fatalen Risiko aussetzen, nur weil wir nicht 23 mehr Diensttage wollen? «Sollen wir aus einer schlechten Laune heraus das Militärgesetz zurückweisen? » Auf die Frage gibt Pilet die ironische Antwort: «Wenn unser Land einmal überwältigt ist, werden wir noch genügend Zeit haben, uns zu zanken und unter uns zu diskutieren. Niemand wird uns dann um unsere Meinung fragen.»

Der Waadtländer Bundesrat ist zuversichtlich. Wenn es ums Vaterland geht, werden alle zusammenstehen. Die Beamten werden für das Militärgesetz stimmen. Die Arbeiter, mit ihrem bon sens, ebenfalls.

Sie wissen, dass die Vorteile, die sie bei uns geniessen und die sie nirgendwo anders finden würden, es verdienen, verteidigt zu werden. Es gibt keine sozialistische Regierung auf der Welt, die, wenn sie einmal an der Macht ist, auf die Landesverteidigung verzichtet. Nicht in England, Dänemark, nirgends. Unsere sozialistischen Führer der deutschen Schweiz wissen dies. Auch sie sind für die Landesverteidigung.

Schlusswort:

An die Urnen, um unsere Herde, unseren Boden, unsere Freiheit zu verteidigen, um den Frieden zu verteidigen, denn was wir wollen, ist der Friede. Tous debout! Keine Fahnenflucht. Desertion ist Verrat, und ein Waadtländer verrät nicht.

Nie zuvor und auch nie nachher hat Pilet mit einer Rede grössere Zustimmung gefunden. In den Tagen danach wird er von Telegrammen, Briefen, Karten, Anrufen überhäuft. Politiker und einfache Bürger, Professoren, Pfarrer, Pöstler, Ingenieure, Bankdirektoren, Hausfrauen danken ihm mit einer kurzen Notiz oder einem mehrseitigen Brief.

«Eine grosse Schlacht ist geschlagen worden», schreibt am Montag die Gazette, «sie hat zu Ehre und Wohl unseres Landes geendet.» Die Wehrvorlage wird mit 506 845 zu 431 902 Stimmen angenommen. 15 Stände Ja, 10 Stände Nein. Die Kantone, in denen Pilet geredet hat, Genf und Waadt, nehmen deutlich an. 

Nach gewonnener Schlacht schreibt Pilet zahlreiche Dankesbriefe. Einem ehemaligen Soldaten seiner Kompanie schreibt er auf einer Karte:

Mon cher Hostettler, es ist Ihr alter Hauptmann mehr als der Bundesrat, der Ihnen antwortet. Der alte, weil mehr als zehn Jahre vergangen sind, seit wir zusammen die Waffen getragen haben, und weil zweifellos der eine oder andere zu ergrauen beginnt. Ihre Erinnerungsworte und Ihre Wünsche sind mir zu Herzen gegangen. Ich danke Ihnen. Bleiben Sie immer überzeugter Patriot und ziehen Sie Ihre Kinder, wenn Sie das Glück haben, solche zu haben, in der Liebe zur kleinen, aber schönen Schweiz gross.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 28.09.2025

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