53. Das Präsidialjahr geht zu Ende Aus «Politiker wider Willen»

Am 29. November 1934 spricht Bundesrat Edmund Schulthess in Aarau über «Lebensfragen der schweizerischen Wirtschaft»: Die Krise lastet schwer auf unserem Volk. Die jungen Leute finden keine Arbeit, verlieren Hoffnung und Vertrauen. Einzelne Industriezweige wie die Seidenindustrie sind vernichtet, die Uhrenindustrie auf einen Bruchteil ihrer früheren Bedeutung zurückgedrängt, die Maschinenindustrie in einem schweren Existenzkampf. Schulthess fürchtet, die Krise werde von Dauer sein. Die Lösung liege im «Anschluss an die Weltwirtschaft». Ob man es wolle oder nicht, die Umstände verlangten den Abbau von Preisen und Löhnen. Sonst drohe der Zusammenbruch unserer Staatsfinanzen.

Die Reaktion auf die «Aarauer Rede» ist gewaltig und vorwiegend negativ. Freisinnige verurteilen die «Preisdiktatur», Katholisch-Konservative halten Schulthess höhnisch vor, er wandle nun plötzlich auf den Spuren seines zurückgetretenen Erzfeindes Musy. Die Gewerkschaften sind entsetzt über die Lohnabbauforderung. Bisher hat die Linke Schulthess als ihren Freund im Bundesrat betrachtet. Jetzt glaubt sie, Schulthess habe in Aarau auf Druck der Grossindustriellen und Hochfinanz gesprochen.

Eine Woche nach der Aarauer Rede wird im Bundesrat auf Antrag von Schulthess eine Vorlage besprochen, die dem Bundesrat Vollmacht erteilt, «Preise für Waren, Dienstleistungen und Mieten zu überwachen». Schulthess ist für eine staatliche Senkung der Lebenshaltungskosten:

Die Exportindustrie, die schliesslich für die Existenz lebenswichtig ist, kann nur weiter bestehen und wiederbelebt werden, wenn wir wiederum arbeiten und unsere Produkte im Ausland verkaufen können. Dies bedingt aber eine entsprechende Anpassung der Preise an diejenigen im Ausland, was wiederum die Reduktion der Löhne erfordert, was nur möglich ist, wenn auch die Inlandspreise für die verschiedenen Bedarfsartikel heruntergesetzt werden.

Der Bundesrat ist einverstanden, streicht aber den von Schulthess vorgeschlagenen «Preiskommissär», den das Welschland nie geschluckt hätte.

An der gleichen Bundesratssitzung setzt sich Pilet für die Erteilung neuer Konzessionen für eine Seilbahn auf die Diavolezza und eine solche von Crans auf den Mont La Chaux ein. Zugunsten einer Diavolezza-Bahn spricht, dass sie das Berninamassiv, «eine der gewaltigsten und schönsten unserer Alpengruppen», dem Touristenverkehr und Skisport, im Sommer wie im Winter, erschliessen wird.

Der Aufstieg zu den weltbekannten Gipfeln dieses Gebiets (Piz Bernina, Crasta Güzza, Piz Zupò, Palü usw.) und die Erreichung der ausgedehnten Skifelder des Pers- und Morteratschgletscher wird durch die Bahn wesentlich erleichtert. Nun ist zu berücksichtigen, dass heute die Besucher unserer Fremdenorte stets abwechslungsreichere und längere Skiabfahrten und Skitouren verlangen, dass man überall die Skisportsaison zu verlängern sucht und dass die Skier auch im Sommer immer mehr benützt werden.

Die Diavolezzabahn werde helfen, die Nachsaison zu verlängern, weil die von ihr erschlossenen Skifelder hoch und klimatisch günstig gelegen sind. Im Ausland schläft man nicht, der Konkurrenzkampf «darf nicht unterschätzt werden». Die Gemeinde Pontresina und die Bündner Kantonsregierung sind für das Projekt, die Seilbahnen in St. Moritz (nach Corviglia) haben Bedenken. Das Department Pilet bejaht nun aber klar die Bedürfnisfrage, glaubt auch, dass andere Bahnen unter der Konkurrenz der Diavolezzabahn «wahrscheinlich kaum leiden», werden und hält diese für «ein wirtschaftlich lebensfähiges Unternehmen».

Bereits am ersten Tag der Wintersession verbreitet sich das Gerücht über einen bevorstehenden neuen Rücktritt im Bundesrat. Schulthess sei erschöpft, ein Kuraufenthalt habe seinen chronischen Katarrh nicht geheilt, er sei sichtbar älter geworden, er ist 66. Presseleuten sagt Schulthess, er gedenke auf die kommende Frühjahrssession zurücktreten.

Jetzt, wo er eben eine neue Wirtschaftspolitik verlangt hat, will er sich drücken? Einflussreiche Persönlichkeiten können sich einen Bundesrat ohne seine dominierende innenpolitische Figur gar nicht denken. «Non, Monsieur Schulthess, pas maintenant!», ruft William Rappard dem Aargauer zu. Er müsse unbedingt bleiben, um sein in Aarau vorgezeichnetes Programm auszuführen. Die bürgerlichen Fraktionspräsidenten, vor allem Walther, verteidigen Schulthess gegen die Anwürfe in der Presse und bitten ihn, «weiter an der Lösung der grossen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Stunde mitzuarbeiten».

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Am Heiligen Abend erhält Heinz Häberlin, jetzt alt Bundesrat, einen «langen, schier etwas zu schmeichelhaften Brief» aus «Berne – Scheuerrain». Darin bedauert Pilet, dass er seinen ehemaligen lieben Kollegen seit dessen Wegzug aus Bern nicht mehr habe treffen können. Wie gern hätte er ihn um Rat gefragt, hätte er auf ihn gehört!

Das Jahr war, zwar nicht physisch (ich habe es besser überstanden, als ich glaubte), aber moralisch schwierig. Nach der kurzen Entspannung des Frühlings haben sich die Schwierigkeiten wieder eingestellt, die vielleicht von anderer Art waren, mehr intern, weniger sichtbar, aber ebenso ernst. Widerstände, Konflikte, Nervosität, Absolutismus haben sich fast jede Woche bemerkbar gemacht, während es mehr denn je einer vertrauensvollen Zusammenarbeit, einer Solidarität einer gebietenden Ruhe bedurft hätte. Ich habe mich manchmal etwas verloren gefühlt, ein armes und einsames Ding, inmitten alter Willenskräfte und hitziger Energien. Ich hätte Ihre Hilfe und Ihre Führung gewünscht.

Mehr als zwei Jahrzehnte zuvor hat sich der in Leipzig lebende Student Marcel Pilet in Gedanken vorgestellt, was die ferne Geliebte wohl im Moment gerade tun könnte, und seine Fantasie laufen gelassen. Jetzt tut er dasselbe, wenn er an den Freund in Frauenfeld denkt.

Oft reden wir von Ihnen, meine Frau und ich. Wir versuchen, uns Ihr Leben vorzustellen. Madame Häberlin im Garten, eine Schere in der Hand, ein Korb vor den Füssen, wie sie an einer Blume riecht. Wir sehen in seinem Büro, ein wenig im Hintergrund, leicht gegen die Lehne seines Fauteuils gestützt Monsieur le Président. Er liest. Seine Augen lösen sich vom Buch. Wohin schauen sie? Auf die Kürze der Vergangenheit? Die Unendlichkeit der Zukunft? Er dreht den Kopf.

Vielleicht hat er gemerkt, dass wir ihn beobachten. Wird er uns lächelnd schelten? Nicht einmal. Enttäuschung. Es ist seine Katze, die auf den Tisch gesprungen ist und sich ihrem Meister genähert hat. Gleichzeitig schmeichlerisch und würdevoll streckt sie sich aus. Scherze ich? Oh, ja! Gelegentlich, wenn ich Vertrauen habe, tu ich das immer noch.

Zum Jahreswechsel loben Politiker, Diplomaten und hohe Beamte Pilets präsidiale Amtsführung über den Klee.

Rudolf Minger, le brave Minger, wie ihn Vallotton etwas gönnerhaft bezeichnet, übernimmt am 1. Januar die Präsidentschaft des Bundesrats. Pilet hat dem Kollegen telegrafisch mit einem «Sinnbild», das eine Schildwache darstellt, gratuliert, worauf der Berner seinem «verehrten, lieben Herrn Kollegen» handschriftlich antwortet:

Ob es mir gelingen wird, den Schildwachbefehl ebenso geschickt auszuführen, wie das bei Ihnen der Fall war, das ist eine andere Frage. Gestatten Sie mir heute, Ihnen meine Bewunderung auszusprechen für Ihre überaus geschickte und glückliche Art, mit der Sie als Bundespräsident die Geschäfte geleitet und den Bundesrat geführt haben.

Ihr Vorbild ist für mich ein Ideal, dem nachzuleben ich mich bemühen werde, von dem ich aber im Voraus weiss, dass es für mich nicht erreichbar ist. Sie sind konziliant und stark zugleich, zwei Eigenschaften, die ich leider nur mangelhaft auf mir vereinige. Ihnen das heute zu sagen, ist mir Herzensbedürfnis. Gestatten Sie mir, als Ihrem Nachfolger, dass ich Ihnen für Ihre aufopfernde und bewundernswürdige Tätigkeit, die Sie in Ihrem Präsidentenjahr zum Wohl unseres ganzen Landes vollbracht haben, meinen tief empfundenen Dank ausspreche.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 21.09.2025

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