Seit über 70 Jahren macht Alfred «Gogo» Fisler Musik. Für seine Kunst nahm er Opfer in Kauf, sie hingegen gab ihm selten genug zum Leben. Doch was macht das schon, solange noch mindestens ein Auftritt auf ihn wartet?
Text: Maximilian Jacobi; Fotos: Raphaela Graf
Es wirkt, als sei ihm all das herzlich egal. Das leichte Zittern seiner Finger, während er die Tasten des Akkordeons drückt. Die langen Ärmel und das Béret, die er trotz Hitze trägt und in denen er aussieht wie ein Matrose auf Landgang. Die Kinder, die über den Platz rennen und seinen Gesang überkreischen. Er singt «La bohème» von Charles Aznavour, als sitze er ganz allein auf der Welt – und nicht zwischen Essensständen und vollen Tischen:
«Je vous parle d’un temps que les moins de vingt ans ne peuvent pas connaître …»
Wer kennt ihn denn noch? Alfred «Gogo» Fisler, geboren 1945, aufgewachsen in Zürich-Wiedikon. Ihn, der mit Freunden in Zürich 1974 den Markt auf dem Rosenhof ins Leben rief, mit Theater, Gauklern und Artisten. Ihn, der das Niederdorf besang, 1979 in einer SRF-Doku über das Zürcher Altstadtviertel. Aber wer soll sich auch an jemanden erinnern, der vor allem Bänkellieder dichtet, eine Mischung aus Schnitzelbank und Operette, ein Genre der Jahrmärkte, von dem es im Schweizerischen Archiv für Volkskunde schon 1972 hiess, dass es niemand mehr ernst nehme, es verschwunden sei, «unwiderruflich».
Und doch, einige kennen ihn noch. Kürzlich erinnerte sich eine Frau an ihn, sie rief an, ganz verzweifelt, bat ihn, am 80. Geburtstag ihres Mannes zu spielen. Noch heute, die Band sei ausgefallen. Fisler nahm den nächsten Zug von Basel nach Zürich. Er griff auf sein Repertoire zurück, einige hundert Chansons und eigene Lieder. Während die Gäste im gemieteten Restaurantsaal eintrafen, Cüpli tranken, assen, bis sie gingen, füllte Fisler den Abend, ganz allein.
Dass einige ihn noch kennen, verdankt er auch den 14 Jahren beim «Broadway-Varieté», von 1998 bis 2011. 14 Sommer dichtete und komponierte er als «Maître Gogo» für das «Spiel- und Verzehrtheater», spielte Piano, begleitete Artistinnen und Jongleure oder berieselte das Publikum, während es ass und auf die nächste Nummer wartete. Das Ensemble zog durch die Schweiz, mit Hunderten von Auftritten in Bern, Zug, Kriens, Zürich und Basel. «Wir waren wie eine Familie, eine fantastische Zeit.»
Sie hatte auch ihren Preis, diese Zeit. Den ersten Winter kehrte Fisler zu seiner Frau Sonja und ihrem gemeinsamen Sohn nach Zürich zurück. Den zweiten Winter verbrachte Fisler allein in einem Wohnwagen, den dritten schon im Studio in Basel, in den anderthalb Zimmern, in denen er noch heute lebt. Nach der Scheidung hat er sich mit Sonja versöhnt, zu seinem Sohn hat Fisler derzeit keinen Kontakt. Doch er ist stolz auf seinen «Filius», der Unternehmer wurde: «Im Gegensatz zu mir hat er es zu etwas gebracht.»
«… la bohème, nous ne mangions qu’un jour sur deux …»
Auch im «Schmalen Wurf» kennt man ihn noch. Die Stammgäste, die Alfred «Gogo» Fisler zunicken, ihn fragen, wie es ihm geht, die ihn noch hören kamen, damals, im «Broadway-Variété». Der Kellner, den Fisler mit «Sali, Mike» begrüsst, und der ihm seinen Café Crème bringt, sicher zwei Mal die Woche, vorne auf der Terrasse mit Rheinblick, die er «meinen Balkon» nennt. Das Restaurant liegt zwanzig Meter vor Fislers Haustür.
Die Spatzen, die hier auf den Tischen landen und nach Essen picken, fürchtet Fisler nicht. Er speist hier selten. Weil er Diabetes hat, kocht er lieber selbst. Und weil er sparsam lebt, von der AHV und von Ergänzungsleistungen, wenn Engagements und Auftritte gerade nicht genug einbringen. Fisler hat sich am Existenzminimum eingerichtet. «Jeder Franken mehr bringt nichts.»
Seine zweite Säule liess er sich auszahlen, als Notgroschen. Davon kaufte er sich kürzlich die Hörgeräte, die noch nicht recht eingestellt sind, und wegen denen er sich immer wieder vorbeugt, sein Ohr dem Gegenüber zuwendet: «Wie?»
«… la bohème, et nous avions tous du génie …»
In Alfred «Gogo» Fislers Erinnerung hat es nie an Genie gemangelt, damals, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Nicht in seiner Familie: Sein Vater arbeitete als Drogist, war Geiger. Einmal im Monat lud er seine Band nach Hause ein, veranstaltete Wohnungsfeste, spielte «Schmachtfetzen» wie «La Paloma». Der Vater schaffte ein Klavier an, spielte seinem «Fredi» so lange darauf vor, bis dieser Klavierunterricht nahm. Und wenn Fredi über Mittag Partituren übte, musste er dafür nicht mit seinen Schwestern abwaschen.
Und auch in seinem Umfeld erinnert sich Fisler an Genie: In der «Milchgugge», einer Zürcher Fasnachts-Clique, der er als Jugendlicher angehörte. Hatte hier nicht zunächst Kurt Laurenz Metzler die Leitung inne, bevor er mit seinen Skulpturen berühmt wurde, sie in Los Angeles, Singapur und Mailand ausstellte? Leitete nach ihm nicht David Weiss die Clique, bevor er im Duo «Fischli/Weiss» seine Fotos, Filme und Skulpturen in London, New York und Paris präsentierte? Hier hängten sie Alfred Fisler jedenfalls das «Gogo» an, seine Kollegen, die die Karikatur eines «Gogo le mime» in der Zeitung sahen und fanden: «Der sieht aus wie du.»
Es blieb haften, das «Gogo», über ein halbes Jahrhundert. Später heute Abend, nach seinem Spiel, wenn der 79-Jährige nach Hause geht, bevor er sich am Geländer das Treppenhaus hochzieht, sein Akkordeon und den Hocker in den dritten Stock hievt, wird Alfred Fisler an seinem Briefkasten vorübergehen. «G. Fisler», steht da.
«… je ne reconnais plus ni les murs, ni les rues …»
Manchmal besucht er seine Erinnerungen. «In der Vergangenheit herumschwelgen» nennt Fisler es, wenn er an die Aegertenstrasse 56 fährt, in Wiedikon, wo er aufwuchs, im Hinterhof Völkerball und Fangen spielte, wo sein Vater die Drogerie hatte, direkt unter der Wohnung, und wo heute italienische Spezialitäten verkauft werden, Pinsa Parma statt Rennie Peppermint.
Zum Herumschwelgen muss Fisler seine Wohnung aber nicht zwingend verlassen. Hinter der Tür zu seinem Zimmer stapelt sich die Vergangenheit. Hunderte Exemplare seiner allerersten Platte, von 1974, deren Hülle schillert wie ein Regenbogenfisch, und auf der er Lieder über den Markt auf dem Rosenhof singt. Dazu unzählige Ausgaben seiner Bänkelgeschichten, Gassenoperetten, Liederbücher und Gedichtbände.
«Schaurig verkauft» hat sich all das nie. Doch er möchte es nicht anders gelebt haben, sein Künstlerleben, auch wenn er könnte, «das wäre Selbstvergewaltigung.»
«… la bohème, ça ne veut plus rien dire du tout.»
Er kündigt eine Pause an. Die Menschen an den Tischen essen, trinken, reden, als hätten sie es nicht gehört. Nach einigen Minuten fängt er wieder an zu spielen. Die Menschen essen, trinken, reden weiter. Er beendet sein letztes Lied, blickt über den Platz mit den Ständen und Tischen. Ein paar Leute in seiner Nähe klatschen. Er geht mit seiner Mütze von Tisch zu Tisch. Einige werfen Münzen rein, manche Noten. Andere entschuldigen sich, weil sie kein Bargeld haben. Der alte Mann zuckt mit den Schultern. Ums Geld ging es Alfred «Gogo» Fisler nie.
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