
Gibt es die vielen Hundertjährigen in den «Blue Zones» etwa gar nicht?
Gegenwind für die Langlebigkeitsforschung: Ein britischer Wissenschaftler bezweifelt, dass es in den sogenannten «Blauen Zonen» jemals überdurchschnittlich viele Hochaltrige gab. Manche Angehörige verschweigen offenbar den Tod ihrer Verwandten, um weiterhin deren Rente zu kassieren.
Text: Claudia Senn
Zu Ende des letzten Jahrtausends entdeckte der italienische Medizinprofessor Gianni Pes, dass in einigen Dörfern Sardiniens die Menschen älter wurden als im Rest des Landes. Anfangs wurde seine Forschung nicht sonderlich ernst genommen, doch dann tat er sich mit dem belgischen Demografen Michel Poulain zusammen. Die beiden Wissenschaftler kontrollierten Geburts- und Sterbeurkunden, interviewten die Hochbetagten und identifizierten schliesslich sechs Bergdörfer, in denen es tatsächlich überdurchschnittlich viele Hundertjährige gab. Sie nannten sie «Blue Zones».
Bekannt machte ihre Forschung der amerikanische Journalist Dan Buettner, der 2005 im Magazin «National Geographic» erstmals darüber berichtete. Er traf damit einen Nerv, denn die Langlebigkeitsforschung, die heute zu den Megatrends der Wissenschaft gehört, nahm damals gerade erst Fahrt auf. Jeder wollte wissen, was er tun konnte, um dereinst auch ein so fitter Hundertjähriger zu werden wie die Hochbetagten in Sardinien. Dan Buettner organisierte Expeditionen in andere Teile der Welt, wo die Menschen ebenfalls besonders alt wurden. Pes, Poulain und Buettner identifizierten gemeinsam weitere «Blue Zones», etwa die griechische Insel Ikaria, die Halbinsel Nicoya in Costa Rica und die Präfektur Okinawa in Japan – die ihren Hochaltrigkeits-Status allerdings inzwischen wieder eingebüsst hat, seit die Menschen dort den westlichen Lebensstil angenommen haben.
Die Forscher zerstritten sich
Dan Buettner, der nicht nur ein erfolgsverwöhnter Journalist, sondern auch ein cleverer Geschäftsmann ist, erkannte das wirtschaftliche Potenzial, das im Versprechen auf ein langes, gesundes Leben liegt. Er liess sich den Begriff «Blue Zones» schützen und baute darum herum ein florierendes Unternehmen auf: mit «Blue Zones»-Kochkursen, Longevity-Kräutertees, verjüngenden Gewürzsaucen und Kosmetikprodukten sowie dem «Hundertjährigen-Kaffee» aus Costa Rica – Kostenpunkt: 340 Gramm für 17 Franken. Etliches davon hat keine wissenschaftliche Evidenz. Doch die millionenfach gestreamte Netflix-Serie «Wie wird man 100 Jahre alt? – Die Geheimnisse der blauen Zonen» wirkte wie Dünger für Buettners Geschäft.
Die drei Forscher zerstritten sich. Zu uneins sind Sie sich inzwischen über die Interpretation ihrer Forschungsergebnisse – und wohl auch über das lukrative Business, das Dan Buettner auf den gemeinsamen Erkenntnissen begründet hat.
Unerwarteter Gegenwind kommt nun auch von anderer Seite. Der britische Demograph Saul Newman stellt zunehmend in Frage, dass die Langlebigkeits-Zonen tatsächlich existieren. «In den meisten Fällen sind die Geburtsurkunden der vermeintlich über Hundertjährigen nicht vorhanden oder betreffen andere Personen», sagte er kürzlich gegenüber der «SonntagsZeitung». In anderen Fällen seien die Sterbeurkunden nicht korrekt verfasst oder fehlten ganz.
In Griechenland hätten Nachforschungen ergeben, dass 72 Prozent der Hochbetagten längst gestorben seien. Die Angehörigen hatten die Behörden jedoch nicht informiert, um weiterhin die Renten ihrer toten Verwandten kassieren zu können. Nach Meinung von Saul Newman gibt es die meisten der sehr alten Menschen gar nicht, und es hat sie auch nie gegeben. «Niemand kann einen hundertjährigen Menschen sicher identifizieren, weil es zur Zeit seiner Geburt noch gar keine verlässlichen Daten oder Fotos gab.»
Sollte sich Saul Newmans These bewahrheiten, stellt das die bisherige Forschung über die «Blauen Zonen» grundsätzlich in Frage. Worin der Schlüssel zu einem langen, gesunden Leben besteht, ist aber inzwischen auch so hinreichend erforscht: Förderlich ist eine pflanzenbasierte, ausgewogene Ernährung mit genügend Eiweiss und gesunden Ölen, viel Bewegung, wenig Alkohol, Nikotinverzicht und gute Sozialkontakte. So einfach wäre es im Grunde genommen. Den «Hundertjährigen»-Kaffee kann man sich also getrost sparen.