48. Abfuhr für den Bundesrat Aus «Politiker wider Willen»
Am 14. Dezember 1933 wird Marcel Pilet-Golaz mit 137 von 152 Stimmen achtbar zum Bundespräsidenten gewählt. Die Sozialdemokraten legten leer ein. Geradezu schwärmerisch würdigen zwei herausragende politische Federn der welschen Schweiz den neuen Mann an der Spitze unserer Regierung. René Payot lobt den «unparteiischen Geist» des neuen Bundespräsidenten, die Sicherheit, mit der er den Übelstand bei den SBB diagnostizierte, und den Mut, mit dem er für Abhilfe eintrat:
Das Portrait von M. Pilet wäre unvollständig, wenn man sich darauf beschränken würde, in ihm einen souverän intelligenten, grossen Verwalter zu sehen. Die, die ihn kennen, wissen, dass unter seiner Reserviertheit, bei der es sich um Würde handelt, tiefe Eigenschaften aufleuchten, ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, die Verehrung grundlegender Ideen und die Verbundenheit mit geistigen Werten, die eine Persönlichkeit adeln.
Grellet ist beeindruckt, weil Pilet sich mit erstrangigen Mitarbeitern umgibt und sie sinnvoll arbeiten lässt. Er lobt die «starke und attraktive Persönlichkeit des neuen Bundespräsidenten».
Dieser Waadtländer, der die höchsten Qualitäten seines Volksschlags verkörpert – Mass, professionelle Gewissenhaftigkeit, Vorliebe für das Verständliche, klare Sicht des Notwendigen –, weiss auch, welche erste Rolle in der Lenkung der Menschen die moralische Erhöhung und die Achtung vor den ewigen Werten spielt, ohne die hier auf Erden nichts Dauerhaftes sich gründet.
Die Sozialdemokraten haben gegen das «Bundesgesetz über den Schutz der öffentlichen Ordnung» das Referendum ergriffen, nachdem es unter dem Druck der bürgerlichen Fraktionen verschärft worden ist. Loyal, aber auch aus Überzeugung, setzt sich Pilet in den ersten Monaten seines Präsidialjahres für die Vorlage seines Mentors Häberlin ein. Am letzten Februarmontag redet er in Biel vor 2000 Personen. Da bei macht er nähere Bekanntschaft mit dem kommenden Mann in der BGB, Markus Feldmann. Dieser notiert in sein Tagebuch:
Auf der Fahrt im Automobil von Bern nach Biel und zurück (der Bundespräsident holte mich zu Hause ab und brachte mich wieder heim) angeregtes Gespräch über die landwirtschaftliche Entschuldungsfrage, die Pilet als das wichtigste politische Problem der Gegenwart bezeichnet. Pilet hat kürzlich Bergbauern in der Waadt persönlich besucht, er war erschüttert über die dort herrschende Notlage. Familien mit Kindern konsumieren nach seinen eigenen Wahrnehmungen nichts als Kaffee und Kartoffeln. Pilet erklärte mir, er habe sich, zu Hause angelangt, wegen seines reich besetzten Tischs vor sich selbst geschämt.
Auf der Rückfahrt reden Feldmann und Pilet noch über die frontistische Bewegung «Heimatwehr», die unter Berner Kleinbauern viele Anhänger hat und der auch der Waadtländer Oberstdivisionär und Mussolini-Verehrer Arthur Fonjallaz angehört. «Pilet bezeichnet Fonjallaz als italienischen Agenten und Spion, im Übrigen verrückt, er sei ja auch in einer Irrenanstalt geboren.»
Seine Hauptreden für das Staatsschutzgesetz hält Pilet in der Woche vor der Abstimmung in Freiburg und in Lausanne. Freiburg ist die katholische Hochburg des konservativen Denkens. Freiburger intellektuelle Führungsfiguren wie Musy und Gonzague de Reynold verehren den portugiesischen Diktator Salazar fast blind. Mit Seitenblick auf de Reynold verteidigt Pilet in seiner Freiburger Rede die Demokratie:
Wir dürfen bei uns keine Diktatur haben. Man spielt ein wenig mit dieser Idee. Passen wir auf! Die Diktatur wäre das Todesurteil für die Schweiz. In der Schweiz wäre sie aus sehr einfachen Gründen unmöglich, die ihr so gut kennt wie ich. Die Diktatur ist unitarisch, sie ist totalitär. Sie verlangt die nationale Einheitlichkeit, die Einheitlichkeit der Rasse, die Einheitlichkeit des Ideals. Nun ist aber die Schweiz vielfältig. Die Schweiz ist kein Volk. Sie ist ein aus verschiedenen Völkern zusammengesetzter Staat. Kann sich jemand vorstellen, dass man aus allen Völkern der Schweiz ein Volk machen könnte, ein einziges Volk mit den gleichen Institutionen, der gleichen Disziplin, der gleichen Mentalität? Dies würde bedeuten, dass man ihm mit Gewalt eine Zwangsjacke anzieht. Wollen wir etwa Deutsche, Österreicher, Italiener, Franzosen sein? Nein, wir wollen wir selber sein.
Den Waadtländern erklärt Pilet, dass das Ordnungsgesetz alles in allem viel weniger drakonisch sei als in den meisten anderen Staaten. Man brauche eine bewaffnete Polizei, die alte behäbige «pépère» Gendarmerie genüge nicht. Wie man in Genf gesehen habe, sei die Truppe nicht für den Ordnungsdienst gemacht, «sie ist gemacht für die Verteidigung des Landes». Der Bundesrat erinnert sich daran, wie er als Hauptmann 1918 während des Generalstreiks eine aufgebrachte Kompanie befehligen musste:
Wisst ihr, wovor ich Angst hatte? Nicht Angst, dass meine Soldaten nicht schössen, sondern die Angst, dass sie ohne Befehl schössen. Diese Befürchtung hat sich – hélas! – in andern Einheiten bewahrheitet. Ich habe daraus den Schluss gezogen, dass eine auf ihre Verantwortung bedachte Regierung alles tun muss, um ein Eingreifen der Truppe zu vermeiden. Man muss vorbeugen, um nicht durch Töten zu heilen.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Pilet geht dann auf umstrittene Artikel ein, so denjenigen über verbotene Versammlungen und Umzüge:
In der Schweiz soll man das Recht haben, seine Meinung auszudrücken und sich zu versammeln, um zu diskutieren, ohne dass man gestört wird, ohne dass man mit Gummiknüppeln angegriffen oder wie Banditen zur Türe hinausgeworfen wird.
Artikel 5 bestraft denjenigen, der im Namen einer ausländischen Regierung behördliche Handlungen begeht. Pilets Zuhörer haben von den Spionage- und Sabotageakten im Tessin gelesen, die die italienische Polizei organisierte, und von Übergriffen der Nazis gegen auf Schweizer Gebiet sich befindende Personen. Pilet: «Wir wollen selber faire notre police. Wir wollen nicht, dass das Ausland sie macht.»
Andere Artikel im Gesetz richten sich gegen bewaffnete Gruppen. Pilet sagt, man habe soeben in Österreich gesehen, wozu es führe, wenn man die Anhäufung von Waffen und Munition zulasse. Er spielt auf den «Februaraufstand» an, als blutige Kämpfe zwischen staatlichen Ordnungskräften und sozialdemokratischen Schutzbündlern über 300 Tote forderten. Zum Schluss verteidigt Pilet seinen besten Kollegen im Bundesrat:
Man nennt dies Gesetz das Gesetz Häberlin. Es ist keine Unehre, es auf den Namen eines loyalen und aufrechten Magistraten zu taufen. Aber in Wirklichkeit ist es das Werk des Parlaments. Es ist kein Klassengesetz oder, wenn schon, ist es das Gesetz der Klasse der ehrlichen Leute. Es stimmt, dass die Sozialisten ihm gegenüber zögerlich und geteilt sind. Was die Gewerkschaften anbetrifft, die den wichtigsten Kern der sozialistischen Stimmbürger ausmachen, bin ich überzeugt, dass sie für das Gesetz sind, und ich könnte dafür Beweise liefern, denn in meinem Amt bin ich in Kontakt mit den Gewerkschaftsführern.
In der gleichen Woche, in der Pilet diese Rede hält, führen die Sozialisten in Lausanne eine von 3500 Sympathisanten besuchte Versammlung gegen das «Maulkorbgesetz » durch – oder das «Zuchthausgesetz», wie die Kommunisten es nennen. Hauptredner Nicole begeistert die Massen. Neben den Sozialdemokraten bekämpfen auch die meisten Frontisten das Gesetz – Ausnahme Divisionär Sonderegger, der als law and order-Mann dafür ist. Die Gewerkschaften stehen offiziell Gewehr bei Fuss.
Zwei Tage vor der Abstimmung verteidigt Häberlin am Radio noch einmal eindrücklich sein Ordnungsgesetz, das vor «Sichel und Hammer» auf der einen, dem «Taktschritt der frontistischen Sturmtruppen» auf der andern Seite schützen soll. Das Gesetz wolle nicht Ideen unterdrücken, sondern die freie Äusserung der Ideen schützen, die durch Lüge, Prügel, Stahlruten und das Sprengen öffentlicher Versammlungen gefährdet sei.
Am 11. März 1934 kommt für Regierung und Bürgertum der Schock. Mit 486 168 Nein zu 416 064 Ja lehnt das Schweizervolk die Lex Häberlin II ab. Das Nein siegt in den Städten Zürich, Basel, Bern, Lausanne, Genf, St. Gallen. Ja sagen bloss die welsche Schweiz, auch Pilets Waadt, das Tessin, Graubünden, Thurgau, Häberlins Heimatkanton, Uri, Glarus und Appenzell-Innerrhoden.
Die Gazette glaubt zu wissen, worauf dieses «bedauerliche Resultat» zurückzuführen ist.
Das Gesetz ist an der latenten, aber tiefen Unzufriedenheit gegenüber den Bundesbehörden gescheitert, die in einem grossen Teil unseres Volkes herrscht. Zahlreiche Bürger, die keine Art von Sympathie für den Sozialismus haben, gute Patrioten und resolute Ordnungsanhänger, konnten ihre Abneigung gegen ein neues aus Bern kommendes Gesetz, in dem sie einen weiteren Zentralisierungsschub sahen, nicht abstreifen.
Nach AHV und Lohnabbaugesetz hat der Bundesrat, der mit einer knappen Annahme gerechnet hatte, zum dritten Mal innert drei Jahren eine Abfuhr erlitten. Nicht in nebensächlichen Abstimmungen, sondern in Fragen der Sozial-, Finanz- und Sicherheitspolitik, die für den Bundesrat richtungsweisende Bedeutung haben. Kann ein vom Souverän derart desavouierter Bundesrat überhaupt noch regieren?
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany