46. Sticheleien Aus «Politiker wider Willen»

Am erwähnten Anlass der A.P.V. – Association patriotique vaudoise – hat es Misstöne gegeben. Dem aufmerksamen Berichterstatter der Sozialistenzeitung Droit du Peuple ist aufgefallen, dass sich das Verhältnis zwischen Vallotton, «der darauf wartet, seine Koffer zu packen, um die Schweizer Botschaft in Paris zu besetzen», und seinem Freund im Bundesrat abgekühlt hat:

Im feierlichen und pedantischen Ton, der seinen ungeheuren Ehrgeiz verrät, geisselte M. Vallotton die «Schwächen» des Bundesrats. Der hinter ihm sitzende M. Pilet-Golaz, dem es noch nicht gelungen ist, ihm den Ambassadorenposten in Paris zu verschaffen, steckte seine «Gerade», ohne mit den Wimpern zu zucken, ein.

Vallotton hatte tatsächlich den Bundesrat nicht geschont:

Wir gratulieren dem Bundesrat, dass er im Juni 1933 endlich die Subvention an den [Arbeitersportverband] Satus bekämpft hat, aber wir bedauern, dass er ihn während Jahren unterstützt hat. Wir sind mit dem Gesetzesprojekt über die öffentliche Ordnung, das die Regierung den Kammern jetzt vorgelegt hat, einverstanden, aber wir sind zutiefst enttäuscht gewesen über ihre derart schwache Antwort [auf die Genfer Ereignisse] im Dezember 1932.

Was wir wollen, ist eine energische, starke Regierung, die regiert, eine Regierung, welche die Schwierigkeiten löst, und nicht einen Verwaltungsrat, der sich mit ephemeren und trügerischen Halbmassnahmen begnügt.

Pilet blieb seinem alten Freund die Antwort nicht schuldig. Gemäss Droit du Peuple war der Bundesrat «viel beredter und geschickter» als «le petit ‹Führer› de l’A.P.V.». Er parierte Vallottons Angriffe mit einer scharfen Kritik an den «Parlamentariern, die sich in allzu viele Dinge einmischen und deren Interpellationen in neun von zehn Fällen nutzlos sind. M. Vallotton, der im Nationalrat oft interpelliert, blieb reglos.»

Pilets gepfefferte Antwort auf Vallottons Attacke wörtlich:

Unsere Exekutive ist gemacht, um zu regieren und allein zu regieren. Nun aber regiert sie nicht mehr allein, weil sie von Seiten des Parlaments von einem Regen von Interpellationen und Motionen überschüttet wird, die seine Macht schwächen. In der heutigen Zeit hat das Parlament seine wirklichen Pflichten und Aufgaben vergessen! Aber, wie das Sprichwort sagt, jedes Volk hat das Parlament, das es verdient, und es liegt am Schweizervolk, Abgeordnete nach Bern zu schicken, die ihre Pflichten gegenüber Staat und Allgemeinheit kennen.

Marcel und Henry, einst ein Herz und eine Seele, haben sich auseinandergelebt. Keiner der beiden scheut davon zurück, den Freund öffentlich zu kritisieren.

Eben gerade – acht Tage zuvor – hat Vallotton in einer seiner zahllosen Interpellationen die Herabsetzung der Bahntarife verlangt. Für ihn geht es um Sein oder Nichtsein der Schweizer Hotellerie. Im März 1933 waren von 100 Hotelbetten gerade noch 12 besetzt. Kleine Pensionen machen der Reihe nach zu. Den Bahnen geht es nicht besser. Vallotton versteht, dass gegen die Weltwirtschaftskrise, die Konkurrenz der andern Fremdenverkehrsstaaten und das Wetter nichts zu machen ist. Wohl aber gegen die hohen Bahnpreise in der Schweiz!

Vallotton gibt Beispiele: Wenn ein Genfer auf der Canebière in Marseille spazieren gehen wolle, koste ihn das Fr. 17.00, wenn er aus Geschäftsgründen nach Zürich fahren müsse, zahle er Fr. 31.85. Der Transport von 80 kg Gepäck von London nach Basel koste Fr. 15.30, derjenige für dasselbe Gepäck von Basel nach St. Moritz Fr. 31.20, also das Doppelte.

Vallotton will auch wissen, wieso es im Winter Sportbillette gibt, im Sommer keine?

Dies verstehe ich nicht und ich erlaube mir, den Herrn Departementschef zu fragen, wieso man ein Wintersportbillett für die Skifahrer zulässt, aber den Kletterern ein Sommersportbillett verweigert?

Der Herr Departementschef pariert elegant. Man sei erstaunt, dass es keine Sommersportbillette gebe? Aus einem einfachen Grund, sagt Pilet:

Im Sommer kann man nicht leicht feststellen, welches in der Schweiz die Sportstationen sind. Im Winter, zur Not ja, aber im Sommer wird das ganze schweizerische Gebiet zum Sportgebiet. Wer Wassersport, Bergsport betreibt, kann ins Mittelland, in den Jura, in die Alpen gehen. Es gäbe bei uns keinen Bahnhof, der sich nicht auf seine Sporteigenschaft berufen könnte; même Bümpliz, avec son Bubenseeli.

Das Wortgefecht zwischen den beiden alten Freunden bleibt manierlich. Aber Zeit und Politik haben der einstigen Seelenverwandtschaft zugesetzt. Vallotton glaubt, dass er es als Eisenbahnminister besser machen würde als Pilet. Pilet lässt Vallotton spüren, dass er die Dossiers besser kennt. Ihre Rolle ist verschieden.

Als Mitglied der Exekutive kann oder muss Pilet entscheiden. Als Angehöriger der Legislativen kritisiert Vallotton und macht Vorschläge. Pilet kümmert sich um das Gesamtwohl der Schweiz, Vallotton vertritt die Partikularinteressen seines Kantons und einzelner Wirtschaftsgruppen. Vallotton wurmt es, dass der Bundesrat mehr Macht hat als er. Pilet verträgt Kritik schlecht.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Zurück von seinem Wochenendabstecher in die Waadt, erwartet Pilet eine Enttäuschung: das Zeugnis des Fünftklässlers Jacques. Weil der Sohn in der Schule weilt und der Vater gleich wieder wegfahren muss, schreibt Marcel Pilet-Golaz dem Filius einen Brief:

Du hast «versagt», mein Junge, im Sinne, dass dein Trimesterzeugnis nicht genügend ist und dass, wenn das ganze Jahr gleich aussehen wird wie die ersten drei Monate, du nicht promoviert wirst. Hauptsächlich wegen zwei Fächern – Deutsch, Lateinisch – hast du nicht den Durchschnitt. Ich mache dir keine Vorwürfe, es wäre zweifellos nutzlos und gefährlich. An dir ist es, an die Vergangenheit zu denken und deine Zukunft zu retten.

Es kommt nicht infrage, dass du ins Pfadfinderlager gehst. Du wirst am Samstag, den 8., den Zug nach Château-d’OEx nehmen, wo du deine ganzen Ferien verbringen wirst … Wenn dein zweites Zeugnis, das erste nicht kompensiert und der Durchschnitt der beiden nicht genügend ist, wirst du das Progymnasium verlassen und ins Internat gehen. Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass deine Mutter und ich sehr traurig sind. Ich bitte dich bloss, wirklich an dich zu denken und ich umarme dich. Papy.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 03.08.2025

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