38. Ein Bauernhaus im Waadtland Aus «Politiker wider Willen»

Im März 1931 kauft Pilet im Namen seiner Frau für 55 000 Franken den Bauernhof Les Chanays, auf den er ein Auge geworfen hat. Einschliesslich eines Wäldchens im Umfang von 40 Aren, umfasst das Gut 12 Hektaren. Es liegt in der Nähe von Essertines, fern der grossen Verkehrsadern hinter dem Hügelzug, der den Genfersee umringt. Pilet lässt das «alte, baufällige, ungenügende» Wirtschaftsgebäude renovieren. Inklusive Nebenkosten kommt das Anwesen auf 80 000 Franken zu stehen, was «es reichlich wert ist». Mathilde Pilet-Golaz nimmt beim Crédit Foncier Vaudois eine Hypothek von 50 000 Franken auf.

Pilet hat mit drei Brüdern Gaillard einen auf sechs Jahre befristeten Pachtvertrag abgeschlossen. Die Pächter verpflichten sich, den Hof «als gute Landwirte zweckmässig und rational zu führen». Nach Ende der Pacht «müssen die Bauern bei ihrem Auszug den ganzen nicht gebrauchten Misthaufen, insbesondere den während der Wintersaison erzeugten, das nicht verwendete Stroh und mindestens 50 Kubikmeter Viehfutter zurücklassen».

Der Verpächter behält sich das Benützungsrecht für ein Zimmer vor. Wenn er, ob allein oder von Mitgliedern seiner Familie oder Dritten begleitet, sich in diesem Zimmer aufhält, kann er das WC und die Waschküche benutzen. «Ausserdem müssen die Bauern ihm zu dem in der Gegend gängigen Tagespreis die aus dem Bauerngut stammenden Nahrungsmittel – Wurstwaren, Geflügel, Eier, Milch, Gemüse, Früchte etc. – liefern, ebenso wie das Brennholz, das er benötigen wird.» In den nächsten Jahren wird der neue Gutsbesitzer Ferientage und, wenn immer möglich, das Wochenende in Les Chanays verbringen. Sein Sohn erinnerte sich später:

Ganz am Anfang schliefen, kochten, assen und wohnten wir in einem einzigen mit Holz geheizten Zimmer ohne fliessendes Wasser. Im Lauf der Jahre hat mein Vater das Bauernhaus nach und nach vergrössert, den Wirtschaftsteil umgestaltet und unsere Wohnlokalitäten geräumiger und bequemer gemacht.

Nachdem Vater Edouard Pilet im Namen seiner Schwiegertochter ein angrenzendes Feld von 200 Aren für 6000 Franken dazugekauft hat, beträgt der Pachtzins für Les Chanays 2300 Franken. Knapp ein Jahr nach dem Kauf des Bauernhauses erhält Monsieur Pilet-Golaz, conseiller fédéral, einen unerwarteten Brief. Darin bittet ihn der Präsident der «Schlichtungskommission in Sachen landwirtschaftlicher Pacht», sich am Montag, 27. März 1932, um 14 Uhr 15 an der Sitzung der Kommission vertreten lassen zu lassen. Pilets «Bauer in Essertines s/Rolle» hat der Kommission ein Gesuch zur Reduzierung seiner Pacht um Fr. 10.– per pose(Jucharte) gestellt.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Am 31. März schreiben auch die Brüder ihrem Verpächter: «Monsieur muss sehr erstaunt gewesen sein, von der Schlichtungskommission einen Brief erhalten zu haben.» Sie begründen ihr Gesuch um Herabsetzung der Pacht mit der desolaten Situation der Landwirtschaft. Alles hat abgeschlagen, die Milch zweimal und das Vieh um die Hälfte. Die Ernte war schlecht: «Wir haben dem Bund nur sechs Säcke liefern können, gerade genug, um das Dreschen zu bezahlen.» Nach Zahlungen für Miete und Dünger bleibe für sie nichts übrig. Deshalb habe man sich an die Kommission gewandt, wo man ihnen gesagt habe, sie hätten sich zuerst an den Eigentümer wenden sollen. Was sie hiermit täten:

Wir wollen gegenwärtig die Pacht nicht kündigen, nachdem wir alle Unannehmlichkeiten des Umbaus ertragen mussten. In der Hoffnung, die gute Harmonie zwischen uns beizubehalten, recevez Monsieur et Madame Pilet nos respectueuses salutations.

Die Antwort des bundesrätlichen Verpächters hat sich gewaschen:

Messieurs, wie Sie mir schreiben, hat mich die Mitteilung, die ich vom Präsidenten der Schlichtungskommission erhalten habe, überrascht. Überrascht ist allerdings nicht das Wort; verblüfft wäre richtiger, um nicht zu sagen entrüstet.

Die Pachtbedingungen, so Pilet weiter, gehörten zu den «mildesten». Für gleichartige Böden mit einer oft weniger leichten Bewirtschaftung würden pro Jucharte üblicherweise nicht 75, sondern zwischen 80 und 90 Franken bezahlt.

Es versteht sich von selbst, dass Sie im ersten Jahr gewisse Mühe und gewissen Ärger haben. Dies ist immer so. Sie sind nicht die Einzigen gewesen. Der Besitzer hat seinen Anteil daran gehabt, in einer vielleicht teureren Form. Übrigens lehrt die landwirtschaftliche Erfahrung, dass man säen muss, bevor man erntet. Ich weiss wohl, dass man in der heutigen Zeit ernten will, bevor man sät. Dies ist vermutlich der Grund, wieso man nichts findet.

Pilet ist auch deshalb wütend, weil vierzehn Tage zuvor, als er sein Bauernhaus besuchte, die Gebrüder Gaillard ihm kein Wort über ihre Unzufriedenheit gesagt haben, obschon sie ihr Gesuch an die Kommission bereits abgeschickt hatten. Der Bundesrat wirft den Pächtern Mangel an Loyalität, Offenheit und Korrektheit vor, «die allein die Beziehung zwischen Eigentümer und Bauer angenehm und vertrauensvoll gestalten». Jetzt sei er gewillt, die Pacht zu kündigen: «Wie ich mich kenne, wird es mir schwerfallen, ein Vertrauen wieder zu finden, das ich verloren habe.»

Die Schlichtungskommission tagt und kommt zu einem salomonischen Entscheid. Die Gebrüder Gaillard hätten wegen der schlechten Ernte tatsächlich einen «ziemlich beträchtlichen» Verlust gemacht. Aber mit ihrem Gesuch um Herabsetzung der Miete hätten sie die elementarsten Anstandsregeln verletzt. Sie hätten die Sache zuerst ihrem Besitzer unterbreiten müssen. Die Kommission sei einstimmig der Ansicht, dass die Pacht von Fr. 75.– absolut gerechtfertigt und das Gesuch der Bauern unzulässig sei. Trotzdem bittet sie Herrn Pilet, «die Möglichkeit zu prüfen, Ihren Bauern, als Entschädigung für die im ersten Jahr erlittenen Verluste, eine Ermässigung von Fr. 300.– zu gewähren.»

Ende gut, alles gut. Zwischen Bauer und Bundesrat findet man eine einvernehmliche Lösung. Einmal mehr hat Waadtländer bon sens – oder ist es gut eidgenössischer Kompromissgeist? – gesiegt.

«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 08.06.2025

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

37. Kampf um die AHV

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 37: Kampf um die AHV.

Fortsetzungsroman

36. Privates

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 36: Privates.

Fortsetzungsroman

35. Service public

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 35: Service public.

Fortsetzungsroman

34. Krieg der Häuptlinge

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 34: Krieg der Häuptlinge.