25. In der Bundesstadt Aus «Politiker wider Willen»

In seinem ersten halben Jahr als Nationalrat meldet sich Pilet kein einziges Mal zu Wort. Er beobachtet, macht Notizen, hört aufmerksam zu. Er muss ja am Freitag jeweils seine Chronik für die Revue abliefern. 

In Bern ist vieles anders als in Lausanne. Im Waadtländer Grand Conseil wird debattiert. Argumente werden vorgebracht, wer nicht einverstanden ist, versucht sie zu widerlegen. Man macht speditiv vorwärts, weil man seinem Beruf nachgehen muss. Wenn der Nationalrat das Budget berät, braucht er acht Tage allein für die Eintretensdebatte.

Wenn wenigstens die Diskussionen lebhaft, neu, fruchtbar gewesen wären. Aber wie viele eitle Wiederholungen, wie viel nutzloses Geschwätz, hohle und gefährliche Phrasendrescherei.

Pilet hat das Gefühl, den Rednern gehe es nur darum, ihren Wählern zu imponieren: Im Sommer, als er schon mehr Erfahrung hat, wird er noch schärfer:

Was mich, seit ich im Rat bin, immer wieder in neues Erstaunen versetzt, ist, dass man so viel reden kann, um nichts zu sagen, es schlecht zu sagen oder etwas Nutzloses zu sagen! Einige sind wahrhaftige Wortmühlen, die man nicht anhalten kann. Sie leiern herunter, leiern herunter, leiern unermüdlich, maschinell, immerwährend herunter.

Als Sohn einer Lehrerin und Enkel von Lehrern steckt Pilet das Benoten im Blut. Gute Zensuren kriegen – wie könnte es anders sein? – seine Waadtländer Fraktionskollegen, die er ziemlich gleichmässig rühmt. Dem ehrenwerten Bundesrat Chuard erweist Pilet die gebührende Ehre. Lobende Prädikate, mit kaum merklichen Vorbehalten, kriegen auch die andern Herren auf der Regierungsbank. Pilet zieht den Hut vor der Virtuosität des Finanzjongleurs Musy und des Tausendsassas Schulthess. Mottas Menschlichkeit und sein umfassendes Wissen beeindrucken ihn. Angetan haben es ihm auch die freisinnigen Deutschschweizer Bundesräte Haab, Häberlin und vor allem der Berner Militärminister Scheurer, dessen bon sens er geradezu «waadtländisch» nennen möchte.

Ein Mann fällt ihm sofort auf, der später im Bundesrat sein Duzfreund werden wird – Rudolf Minger:

Dieser ausgezeichnete Landwirt hat den Sinn für die Realitäten nicht verloren und lässt sich nicht von den nebelhaften Utopien blenden, die gewissen Geistern lieb sind. Er hat festgestellt, dass Europa ehrbare Anstrengungen unternimmt, um den prekären Frieden zu sichern, dessen es sich gegenwärtig erfreut. Aber er erinnert auch daran, dass kein Monat, ja keine Woche vergeht, wo nicht irgendein blutiger Konflikt auszubrechen droht. Und er hat daraus geschlossen – die Logik ist noch nicht tot –, dass es unerlässlich ist, auf der Hut zu bleiben und zu wachen.

Mit Spott überhäuft Pilet die immer noch mit einer proletarischen Revolution liebäugelnden linken Sozialisten und Kommunisten wie den Genfer Léon Nicole oder den Schaffhauser Walther Bringolf. Als Bringolf ein Unglück in der Munitionsfabrik Altdorf zum Anlass nimmt, um wieder einmal über die kapitalistische Gesellschaft herzufallen, fasst Pilet dessen «kristallklare Argumentation» ironisierend so zusammen:

Die Bürgerlichen unterhalten mit zu grossen Kosten eine nutzlose Armee. Die Armee braucht Pulver. Die Gefahren der Pulverherstellung hat mehreren Arbeitern das Leben gekostet. Folglich sind die Bürgerlichen schuld. Die Lösung? Sie ist einfach! Die Armee abschaffen. Auf das Pulver verzichten. Dann gibt es keine Toten mehr. Ihr seht, M. Bringolf ist ein grosser Denker und es ist ein Glück für die Nation, ihn im Parlament zu haben.

Noch ist der Gebrauch des Telefons unüblich und teuer. Deshalb berichtet Marcel seiner Frau schriftlich über sein Tun und Lassen:

Ich schäme mich. Gestern fröhlicher Abend mit den Neuenburgern. Ich konnte mich nicht entziehen. Heute Morgen, anstatt Frühstück, gehe ich auf den Markt. Pittoresk. Aber das Wetter verschlechterte sich. Soeben Siesta bis 5 Uhr! Ein Skandal, nicht wahr? Sag es ja nicht meinen Wählern.

Scherzhaft versucht sich Pilet in den Briefen an die Frau gelegentlich auf Deutsch – mit bescheidenem Erfolg:

Viel Dank für deines Briefes, der mir tiefe Freude angebracht hat. Morgen sind wir wahrscheinlich mit der parlamentarischen Arbeit fertig und fahren nach der Familie. Geliebte, gute Nacht und zärtliche Kusse.

Oder, wiederum wörtlich:

Meine allerteuerste Frau

Ich kann Ihnen die sehr angenehme Anmeldung thun, dass ich nicht das «kurze» Halma in Bern getroffen habe; gar keinen Brief auch von ihr gefunden. Befriedigen Sie ihre zarte Seele und glauben Sie dass ich Ihnen meine ganze und tiefe Liebe bewahre. Meine ehrenvolle Grüsse an Ihre werte Frau Mutter, bitte. Küssen Sie an meiner Stelle den lebhaften Jacques. Ich träume von Ihnen. Thun Sie es auch und ich werde den allerglücklichsten Ehemann.

Manchmal gibt es Neuigkeiten vom gemeinsamen Freund:

Henry ist sehr müde. Am Freitag ist er ohnmächtig geworden. Nervös und schlafgestört. Er braucht Ruhe. Im Mai geht er für einen Monat nach Dresden.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Während Marcel Pilet-Golaz geduldig schweigt, tritt Henry Vallotton-Warnery schon bald ins Rampenlicht. Im Februar 1926 reicht er im Namen der Waadtländer radikalen Delegation eine Interpellation zu den «russischen Verhandlungen» ein. Die Frage der Beziehungen zum revolutionären bolschewistischen Regime erregt seit 1918 die Schweizer Gemüter. In der Waadt gehen die Wogen besonders hoch. 1923 erschoss in Lausanne der von den Sowjets enteignete Russlandschweizer Conradi den sowjetischen Diplomaten Worowsky. Ein Waadtländer Geschworenengericht sprach den Attentäter frei – für die Bürgerlichen ein begreifliches Urteil, für die Linke ein Skandal.

Es laufen Sondierungen zwischen Bern und Moskau, ob man nicht im Interesse gegenseitigen Handels zu einem Arrangement kommen könne. Als Mitunterzeichner der Motion Vallotton und als Parlamentschronist schenkt Pilet der Frage der Beziehungen zur Sowjetunion spezielle Aufmerksamkeit. Die beunruhigte Öffentlichkeit, schreibt er in seiner Chronik, erwartet vom Bundesrat Aufklärung über den Verlauf der geheimen Gespräche und die Zusicherung, dass es gegenwärtig unmöglich sei, «ein Regime anzuerkennen, das Familie, Vaterland, Ehrlichkeit und Religion mit Füssen tritt».

Das Schweizervolk ist belesen. Es kennt die Fabel vom Wolf und dem Schäfchen. Es fürchtet die wilden Tiere und will von ihnen geschützt sein. Aber hier wird man mich schon wieder als Reaktionär beschimpfen, als einfältigen Waadtländer …

Unverfroren lobt Pilet in der Revue seinen Freund Henry:

Mit der warmen und packenden Beredsamkeit, die ihr kennt, hat er eine aufrüttelnde, feste und treffende Rede gehalten, die auf die Versammlung einen tiefen Eindruck gemacht hat. Als sicherer Interpret des Volksgewissens hat er dem Bolschewismus den Prozess gemacht – dieser moralischen Pest, vor der unsere alte, ehrliche und freie Demokratie mit eifersüchtiger Sorge bewahrt werden muss.

Etwas freut Pilet besonders:

Die Deutschschweiz – woran wir kaum gezweifelt haben – denkt in ihrer grossen Mehrheit in dieser Frage gleich wie wir und ihr Herz schlägt im gleichen Takt wie das unsrige.

Vallotton hatte sich sein Thema gut gewählt. Das Neuenburger Feuille d’Avis: 

Warmer Applaus. Unzählige Glückwünsche. M. Vallotton hat nicht genug Hände, um diejenigen zu drücken, die man ihm entgegenstreckt.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 09.03.2025

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

31. Gewählt und gefeiert

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 31: Gewählt und gefeiert.

Fortsetzungsroman

30. Die Nachfolgefrage

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 30: Die Nachfolgefrage.

Fortsetzungsroman

29. Eine geprüfte Ehefrau

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 29: Eine geprüfte Ehefrau.

Fortsetzungsroman

28. Lehrgeld

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 28. Lehrgeld.