22. Landesstreik Aus «Politiker wider Willen»

9. November 1918. Berlins Strassen sind in Aufruhr und im Lustgarten verkündet Karl Liebknecht die «freie sozialistische Republik Deutschland»: «Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen … Das Alte ist nicht mehr.» Die Nachricht von der Abdankung Kaiser Wilhelms II. geht um. Tags zuvor ist die 4. französische Armee in Sedan einmarschiert. Das ausgelaugte Deutschland hat um Waffenstillstand gebeten. Im Wald von Compiègne verhandelt die deutsche Delegation mit Marschall Foch.

Pathetisch feiert an diesem «Schicksalstag» die Gazette die «Rückkehr der Gerechtigkeit» und den «reinigenden Sieg»:

Die strahlenden Fahnen der Freiheit flattern, unter denen Osten und Westen gekämpft haben, die Belgier und die Serben, die Amerikaner, die Engländer, die Italiener, die Portugiesen, die Australier, die Kanadier und alle jene, die von überall her dem Ruf des empörten Gewissens gefolgt sind. Zu dieser feierlichen Stunde strahlt der aussergewöhnliche Ruhm Frankreichs vor Unsterblichkeit. Es ist, als hätte die Suisse romande den Krieg gewonnen.

In derselben Ausgabe der Gazette können die Lausanner einen Aufruf des Bundesrats lesen, in dem dieser der Armee für ihre treue Bewachung der Grenzen dankt. In den Tagen, da eine tückische Krankheit viele unserer wackeren Wehrmänner dahinraffe, habe sie schwere Zeiten durchgemacht. Neben der Grippe trübt eine «wachsende Beunruhigung» gewisse Landesteile und namentlich die Stadt Zürich.

Offen oder verschleiert drohen gewisse Gruppen und Blätter, die revolutionären und anarchistischen Experimente, die Russland blutig heimsuchen, nach der Schweiz zu verpflanzen.

Der Bundesrat befürchtet bolschewistische Umtriebe. In der welschen Schweiz ist man gewappnet. Tribune de Lausanne:

Der Bolschewismus wird in der Schweiz nicht den Sieg davontragen, das Milieu ist ihm nicht günstig. Er befürwortet die Machtübernahme durch das Proletariat. Er kann in Ländern zeitweise obsiegen, die ein Klassenregime gekannt haben, sei dies eines der Aristokratie, der Beamten oder der opulenten Bourgeoisie. In unserer demokratischen Nation würde er einen jämmerlichen Rückschritt in die Vergangenheit bedeuten. Nie wird das Schweizervolk die Rückkehr eines Klassenregimes zulassen.

Genau gleich denkt auch Anwalt und Offizier Marcel Pilet

Am 11. November wird in Compiègne der Waffenstillstand unterzeichnet und gleichentags proklamiert das von Nationalrat Grimm präsidierte sozialistische Oltener Komitee den Landesgeneralstreik. Der Bundesrat reagiert unverzüglich:

Dieser Landesstreik setzt die Existenz und Wohlfahrt unseres Landes aufs Spiel. Wir haben heute Vormittag beschlossen, auch die Infanterie der 1. Division und von zwei Gebirgsbrigaden aufzubieten, zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung.

Die 1. Division ist aus Welschen zusammengesetzt, Bundesrat und Armeespitze trauen ihr. Die Gazette ist sicher, dass ihre «schönen Bataillone» ihre Aufgabe erfüllen werden:

Die Söhne sind ihrer Väter würdig. Die 1. Division wird an einen Ehrenplatz gerufen: Ihr obliegt die Wacht der Fahne.

Als Kommandant der Infanteriemitrailleur-Kompanie I/1 ist Hauptmann Marcel Pilet einer dieser Söhne, dem die Wacht der Fahne obliegt. Er weiss dies und führt gewissenhaft das Armeetagebuch:

Montag, 11. November 1918
8 Uhr Antrittsverlesen in Yverdon. Zugegen sind bloss 1 Offizier, 13 Männer, 3 Pferde. Bemerkungen:

Der von den Gemeinden zu spät erfahrene Mobilmachungsbefehl hat es den Männern nicht ermöglicht, rechtzeitig einzutreffen. Sie kommen im Verlaufe des Abends und beginnen sofort, das Material zu fassen. Der Kompaniekommandant hat kein persönliches Gepäck und keine Bürokisten. Ihm fehlen jegliche Unterlagen.

Dienstag, 12. November 1918
Die Privatschuhe werden gegen Militärfusswerk eingetauscht, das Pferdegeschirr angepasst, die Munition verteilt. In kleinen Grüppchen und mit den verschiedensten Verkehrsmitteln tröpfeln die aufgebotenen Wehrmänner herein: Fourier Iseli meldet sich um 1 Uhr 45 morgens und Korporal Rey um 4 Uhr morgens. Er ist zu Fuss gekommen. Die Züge funktionieren nur noch auf der Linie Yverdon – Ste-Croix.

Mittwoch, 13. November
Der Kommandant und sein Feldweibel warten die ganze Nacht auf ein Kontingent aus Genf, doch das angekündigte Automobil lässt auf sich warten.

Die Moral ist ausgezeichnet und die Bereitschaft so fest wie nur möglich. Bauern und Arbeiter wollen keinen Bolschewismus.

Donnerstag, 14. November
Die aus Genf erwarteten Männer treffen endlich ein. Abfahrt nach Estavayer. Trocken und kalt. Bemerkungen:

Am Morgen die Meldung, dass das Komitee von Olten kapituliert hat. In der Stadt (Yverdon) bricht Freude aus. Die Truppe bleibt ruhiger. Am Abend, während in Estavayer Knallfrösche losgelassen werden, berichtet die Division, dass in Biel, Solothurn, Olten und vor allem Grenchen gewalttätige Manifestationen stattgefunden haben. Tote und Verwundete.

Freitag, 15. November
Dislokation nach Avenches. Die Pferde sind in kalten und schmutzigen Flugzeughangaren untergebracht. Mitrailleur Breton ist an Grippe erkrankt. Das Wetter ist bedeckt, kalt, schneidende Bise.
Bemerkungen:

Die Züge fahren wieder und Nachrichten treffen ein. Man entreisst sich die Zeitungen. Jeder diskutiert und entscheidet. Keiner, der nicht die Bestrafung der Schuldigen fordert.

Samstag, 16. November
Abreisebefehl. Tagwacht für Hptm Pilet ist um 4 Uhr, für die Truppe um 5 Uhr 30. Über Faoug, Kerzers, Aarberg – wo es Suppe gibt – geht es nach Lyss und Busswil. Aus Olten, Basel und Schaffhausen stossen weitere Leute zur Truppe. Drei Kranke sind grippeverdächtig. Die Leute aus Olten melden, der Zug, der sie transportierte, sei am Bahnhof Lyss angegriffen worden. Die Offiziere hätten zur Pistole gegriffen, der Hauptmann habe ihnen befohlen, «viel und gut zu schiessen».

Sonntag, 17. November
Putzen des Pferdegeschirrs, Inspektion der Ausrüstung, individuelles Retablieren. Wetter weiter kalt, bedeckt.
Bemerkungen:
«Es scheint, dass die Kompanie ein wenig nachlässig wird. Müssiggang ist ein schlechter Ratgeber.»

Montag, 18. November
Sieben neue Grippekranke werden abtransportiert. Bemerkungen:

Als sie wieder in Griff genommen wird, gibt sich die Kompanie sichtlich Mühe: Die Handhabung der Waffen und das Exerzieren sind befriedigend. Selbst der Taktschritt ist passabel.

Dienstag, 19. November
8 Kranke. Arbeit aufs strikte Minimum reduziert. Die Grippe breitet sich aus. Die Moral der Truppe lässt ein wenig nach. Die Leute sind schlapp.

Mittwoch, 20. November
8 Kranke nach Biel, 7 Kranke nach Yverdon evakuiert. Wetter weiter kalt.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Donnerstag, 21. November
In der Nacht von 2 Uhr bis 3 Uhr 20 Rückfahrt nach Yverdon. Eineinhalb Stunden Schlaf. Zurücknahme der Zivilschuhe. Rückgabe von Pferden und Munition, Inspektion. Suppe. Hauptverlesen. Capitaine Pilet platzt der Kragen:

Schlamperei, Durcheinander, Sichgehenlassen, Unfähigkeit von oben bis unten. Die SBB und die Zeughäuser halten sich nicht an die Fahrpläne. Der Platzkommandant ist unterhalb jeder Kritik. Wenn er Befehle gibt (rara avis) sind sie zum Heulen dumm. Kantonnemente schlecht ausgewählt und noch schlechter vorbereitet. Die Kompanien II und III haben sich bedient, ohne sich um die I. zu kümmern. Um 5 Uhr morgens noch kein Stroh. Der Kompaniekommandant schläft mit seiner Truppe.

Pilet fragt sich, ob dies nicht eine armée en déroute sei?

Freitag, 22. November
Von 20 Uhr 30 bis 23 Uhr Kompanieabend. 23 Uhr 30 bis 4 Uhr 30 Büroarbeit für Cpt.
Pilet:

Der Kompaniekommandant, der seinen Fourier nicht mehr hat, muss sich persönlich um die Buchhaltung kümmern. Am Abend improvisiertes Kompaniefest. Gute Laune. Glänzende Moral.

Samstag, 23. November
7 Uhr 45 Beurlaubung der Truppe. 14 Uhr: «Der Kompaniekommandant übergibt die Buchhaltung. Er ist der Erste.» Pilet, der einstige Klassenprimus in Mathematik, ist wieder einmal der Erste!

Wieder zuhause im zivilen Leben erhält Pilet zahlreiche Briefe und Karten von seinen Soldaten. Wachtmeister Reymond dankt für die Zustellung seines Solds und teilt mit, dass es ihm sehr gut geht, wenn er auch immer noch schwach ist:

Mon capitaine, meine Eltern haben mich beauftragt, Ihnen für die taktvolle Art zu danken, mit der Sie ihnen meine Krankheit gemeldet haben. Dank Ihres Takts haben sich meine guten alten Eltern nicht um ihren Sohn Sorge machen müssen, was unweigerlich geschehen wäre, wenn sie von jemandem anderen informiert worden wären.

Ein Soldat fragt Pilet, ob er ihm behilflich sein könne, die von ihm im auf der Krankenstation vergessene Uhr zurückzuerhalten. Andere, die bei der Entlassung krank waren, bitten darum, dass man ihnen ihre in Yverdon zurückgelassenen Zivilschuhe nachschicke. Das Wetter ist zu nass, um schon die Sommerschuhe hervorzuholen. In verschiedenen Briefen erkundigen sich Soldaten, was sie tun müssen, um von der Militärversicherung entschädigt zu werden, oder bitten direkt um finanzielle Hilfe. Später wird das Bundesamt für Statistik errechnen, dass in der Schweiz 1918 21 000 Menschen an der Spanischen Grippe starben. Es fielen der Seuche mehr Männer als Frauen zum Opfer und die Sterberate für Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren war besonders hoch.

Mitrailleur John Pouly dankt für «den ausgezeichneten Honig, den Sie uns liebenswürdigerweise zukommen liessen».

Der Gefreite Meylan beruhigt auf einer Ansichtskarte von Le Brassus mon capitaine, dass er «vollständig von der Grippe erholt, nach Hause zurückgekehrt» ist:

Ich bin bereit, den Kampf gegen diese abscheulichen Bolschewisten wieder aufzunehmen; weh ihnen, wenn sie wieder anfangen; sie werden nicht lebend davonkommen. Recevez mon capitaine mon capitaine mes amitiés très sincères et patriotiques salutations App. Meylan Robert.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 16.02.2025

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