Keine halben Sachen 14. August 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einer Bruchlandung, Dauerschmerzen und ihrem persönlichen Spitex-Helden.
Wie ein bunter Drachen schwebte ich am Herbsthimmel meines Lebens – ohne berufliche Verpflichtungen, Redaktionsschlüsse und einer langen To-do-Liste. Der farbige Drachen-Schwanz verlieh mir im ungewohnten Pensionierten-Freiflug die nötige Stabilität und Kontinuität: Meine neue Ausbildung, die Engagements als Freischaffende, vermehrte Auszeiten mit Mann und Hund, Singen im Chor, Freundinnen und Freunde, meine Freiwilligenarbeit, Frauentreffen, Lesen, Brieffreundschaften… Und plötzlich ist alles weg. Der Himmel trägt nicht mehr. Von all meinen Aktivitäten bin ich von einem Tag auf den anderen abgeschnitten. Der Herbstdrachen hat eine Bruchlandung hingelegt.
Nach dem Motto «Dopplet gnäjt het besser» oder «Ein Unglück kommt selten allein» oder auch «Keine halben Sachen» habe ich mir bei meinem dummen Sturz Mitte Juli auf unserem Bahnhof nicht nur den Fuss gebrochen. Auch meine Unfallschulter, die ich mir vor 13 Jahren zugezogen habe, ist definitiv kaputt gegangen. Anschliessend an den Gipsfuss wird es gleich eine Schulterprothese geben. Dass die geplanten Ferien, Ausflüge und überhaupt mein ganzes Programm in nächster Zeit gestrichen sind, macht mir nichts aus. Mir hilft der Satz aus Elke Heidenreichs Buch «Altern»: «Gehabthaben schützt vor Habenwollen.» Wenn ich nachts nicht schlafen kann, zehre ich von dem, was ich in meinem Leben gehabt habe – und das ist viel.
Zu schaffen machen mir aber die Schmerzen. Keine Ahnung hatte ich, dass sie so zermürbend sein können. Sie kappen die Lebensfreude und -qualität – und es gibt Menschen, die jahrelange Schmerzen aushalten! Wie sie das nur machen? Ich bewundere sie. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin dankbar für den Medikamentencocktail, den mir die Ärzteschaft anbietet. Damit geht es zwar nicht gut, aber die Schmerzen sind erträglich. Und im Notfall dürfte ich sogar ein Opiat einsetzen. So überbrücke ich die Zeit bis zur neuen Schulter. Die Tage bis dahin vergehen nur zähflüssig.
Mit dem linken Fuss im Gips und dem rechten Arm in der Schlinge trage ich nichts zum gemeinsamen Haushalt bei. Zu unserem nachbarlichen Freund sagt mein Mann, er wisse jetzt, was Personalmangel in der Hotellerie bedeute. Seit bei uns der «Gardemanger» und der «Casserolier» ausgefallen seien, sei es fertig mit der kalten Küche oder dem gemütlichen Sitzenbleiben nach dem Essen. Die Salatsauce – meine Aufgabe – kommt neu aus der Flasche. Den Abwasch muss mein Mann neben Einkaufen und Kochen selbst erledigen. Ebenfalls die Lingerie sei von der Havarie betroffen, er mühe sich zusätzlich mit Waschmaschine, Stewi und Bügeleisen ab. Vom Room Service nicht zu reden: Badezimmer putzen, Staub saugen oder Pflanzen giessen obliegen ihm allein. Und erst der Hund! Der Schrittzähler meines Mannes schwingt sich in ungeahnte Höhen.
Daneben ist er noch mein persönlicher Spitex-Held. Er sei ja pensioniert und habe Zeit dafür, tröstet er mich. Ich denke an unseren Hochzeitstag vor bald vierzig Jahren zurück. Wir sassen im Trauzimmer unseres Standesamtes, an der Wand hing Albert Ankers Bild «Der Gemeindeschreiber», und die Standesbeamtin im Sonntagskostüm sagte im breiten Berndeutsch unserer Gegend, von nun an würden wir «Früüd u Leed teele». Freude zu teilen ist einfach. Geteiltes Leid ist eine Herausforderung.
- Wurden Sie auch schon von Dauerschmerzen geplagt? Wie sind Sie damit umgegangen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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