80. Wahltheater Aus «Staatsmann im Sturm»

Am 1. Dezember, in der einzigen eidgenössischen Volksbefragung des Jahres, wird über ein Gesetz zur Einführung eines obligatorischen militärischen Vorunterrichts abgestimmt. Der Bundesrat und alle massgeblichen Parteien einschliesslich der Sozialdemokraten unterstützen das Gesetz. Gegner sind Pazifisten und eingefleischte Föderalisten in den katholischen Kantonen und der Waadt. Die Gazette de Lausanne unter Chefredaktor Rigassi gibt die Ja-Parole aus, aber Bundeshausredaktor Pierre Grellet kriegt die Freiheit, an prominenter Stelle das Gesetz zu bekämpfen:

Man darf nicht verkennen, dass unsere Armee ein mächtiges Instrument der Zentralisierung ist. Diese Zentralisierung äussert sich natürlich in einer Bürokratisierung, die auf bestürzende Weise in das ganze Räderwerk unserer Landesverteidigung eindringt.

Grellet zweifelt daran, dass der obligatorische militärische Turn- und Schiessunterricht der 16- bis 19-Jährigen die Widerstandskraft des Landes stärkt. Wenn das Gesetz angenommen werde, lege der Staat seine schwere Hand auf die Jugend.

Für die Befürworter, darunter praktisch alle Zeitungen der Deutschschweiz, ist der obligatorische Vorunterricht ein Ausdruck der ungebrochenen Verteidigungsbereitschaft der Schweiz. Doch einmal mehr ist das Volk, vor allem auf dem Land, störrisch. Man will keinen eidgenössischen «Turnvogt». Soldaten, die monatelang unter dem militärischen Leerlauf gelitten haben, meinen, man solle zuerst im Militärdienst die Zeit vernünftig ausnützen, bevor man die Jugend zur körperlichen Ertüchtigung zwinge. Das Gesetz wird mit 56 zu 44 Prozent verworfen. Nur drei Kantone stimmen dafür – nicht einmal Mingers Bern.

Als Waadtländer Föderalist wird Pilet über die Niederlage des Bundesrats kaum enttäuscht gewesen sein. Mehr als der Vorunterricht beschäftigt die am 10. Dezember anstehende doppelte Bundesratswahl ihn und das Land. Kaum ist am 9. November der Rücktritt von Minger und Baumann bekannt geworden, spekulieren die Zeitungen über mögliche Nachfolger. Zwar bedauert man Mingers Abtreten, aber man sieht die Möglichkeit einer Blutauffrischung. Die gegenwärtige Zeit verlange Bundesräte mit «einem Höchstmass von physischer und seelischer Spannkraft», die im «Vollbesitz staatsmännischer Eigenschaften» sind, befindet die NZZ. Von «der zupackenden Energie und der Entschlusskraft der Regierung» hänge das Schicksal des Landes ab.

«Das alte Spiel», mahnen die Intellektuellen der Neuen Helvetische Gesellschaft, sei nicht weiter zu treiben:

Nach der Verfassung gibt es keine Ansprüche. Irgendwelche Ansprüche von Kantonen, Parteien oder Interessengruppen müssen heute zurücktreten. Nur ein Grundsatz gilt: Wahl der besten Männer.

Der Gotthard-Bund fordert «für ausserordentliche Zeiten ausserordentliche Männer ». Für René Payot, Chefredaktor des Journal de Genève, ist C. J. Burckhardt der Mann der Stunde. Er habe seine Danziger Mission als Hochkommissar «auf magistrale Weise» erfüllt:

Sowohl Kanzler Hitler wie Lord Halifax haben unserem Landsmann für seine Objektivität, seine hohe Art, die Fragen zu sehen und die Sache des Friedens zu verteidigen, ihre Dankbarkeit ausgedrückt.

Auf Wunsch von IKRK-Präsident Prof. Max Huber wirbt in der NZZ Prof. Dieter Schindler für den parteilosen Burckhardt. Schindler ist der neue Präsident des mächtigen Verwaltungskomitees der Zeitung. Da kaum jemand der BGB Mingers Berner Sitz streitig machen will, müssten die Freisinnigen Baumanns Sitz zugunstenvon Burckhardt aufgeben. Dies jedoch will die FDP, wollen erst recht die Welschen nicht.

Das Scheitern der Romands bei den Nachwahlen Motta und Obrecht – im Februar und im Juli 1940 – spornt sie zu raschem Handeln an. Sie heben den Neuenburger Staatsrat Ernest Béguin, Präsident der Schweizer FDP, auf den Schild. «Un choix heureux», findet das Lausanner Parteiblatt La Revue. Am 2. Dezember wird Béguin von der Freisinnigen Fraktion offiziell nominiert.

Béguin ist schon 61 Jahre alt und hat als Ständerat keine Stricke zerrissen. Viele Deutschschweizer Nationalräte kennen ihn kaum. Dieser ältere Herr soll nun die energiegeladene neue Kraft in der Regierung sein? In der FDP- Fraktion droht eine Gruppe von Linksfreisinnigen dem Sozialdemokraten Bratschi die Stimme zu geben, wenn nicht auf die Nomination Béguin verzichtet werde. Der Neuenburger gibt der Fraktion die Handlungsfreiheit zurück. Am 9. Dezember, Vortag der Wahl, einigt sich die Fraktion auf die Nomination des Wallisers Camille Crittin. Kopfschütteln, vor allem bei den KK. Das Parteiorgan Vaterland am Wahltag:

Der Name ist der schweizerischen Öffentlichkeit sicherlich nicht bekannt – es sei denn, aus seinen früheren Reden gegen das Militärbudget, die peinliches Aufsehen machten, oder aus seiner Rede im schweizerischen Nationalrat zur Verteidigung der Gottlosen. In katholisch-konservativen Kreisen wurde diese Kandidatur denn auch als ausgesprochene Provokation aufgefasst: Crittin ist aus der Kirche ausgetreten und war – von persönlichen Angelegenheiten zu schweigen – ausgesprochener antiklerikaler Kämpfer.

Grellet meint in der Gazette, «die eidgenössischen Radikalen müssen von den Göttern und den Menschen verlassen worden sein, um in letzter Stunde der Öffentlichkeit einen solchen Fehdehandschuh hingeworfen zu haben».

Inzwischen hat sich bei der BGB die Frage der Nachfolge Mingers geklärt. Der anfänglich klare Favorit, der 43-jährige Nationalrat und Chefredaktor Markus Feldmann, ist ausgeschieden, obschon ihn seine Berner Kantonalpartei mit deutlicher Mehrheit vorschlug. In den übrigen Kantonen ebenso wie bei den Freisinnigen und den KK regten sich seine politischen und persönlichen Gegner. Sie führten einen wahren Feldzug gegen ihn, Feldmann sei ein Hitzkopf, habe ein schwaches Herz – dienstuntauglich! – und stehe zu weit links. Es wurde geflüstert, dass der Nazifeind Feldmann für Deutschland untragbar sei.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Pilet, der nicht vergessen hat, dass Feldmann in der Audienzaffäre seinen Rücktritt forderte, agierte hinter den Kulissen, um dessen Kandidatur zu Fall zu bringen. Schliesslich nominierte die BGB-Fraktion den kaum bekannten Berner Gemeinderat von Steiger, dessen Wahl im ersten Wahlgang Königsmacher Walther garantiert hatte.

Die Vereinigte Bundesversammlung vom 10. Dezember wählt von Steiger im 1. Wahlgang mit 130 Stimmen. Bratschi erhielt 56, der vom Landesring portierte parteilose Vater der «Anbauschlacht» Wahlen 13, Feldmann 12 und der von verschiedenen Zeitungen ins Spiel gebrachte Freisinnige Stucki, Gesandter in Vichy, 7 Stimmen.

Die Ersatzwahl Baumann beginnt mit einem Paukenschlag. Crittin, der offizielle Kandidat, erhält im 1. Wahlgang bloss 62 Stimmen. Sein Schicksal ist besiegelt. Mit grösster Spannung verfolgt der General das sich jetzt abzeichnende Duell zwischen den beiden Obersten, dem freisinnigen St. Galler Kobelt und dem liberalen Neuenburger Du Pasquier. Dieser ist sein Vertrauensmann, der ihn im Bundesrat wie bisher Minger stützen würde. Mit Kobelt, so befürchtet Guisan, würde einer seiner Gegner das Militärdepartement übernehmen, ist doch Kobelt der Stabschef von Oberstkorpskommandant Labhart, den Guisan als Generalstabschef abgesetzt und ins 4. AK verbannt hat.

Der General telefoniert zwischen den Wahlgängen ins Bundeshaus und heisst den freisinnigen Waadtländer Ständerat Louis Chamorel, «le colonel», unbedingt gegen Kobelt zu stimmen. KK-Nationalrat und Generaladjutant Dollfus bearbeitet Offiziere unter seinen Ratskollegen. Er fordert sie dringlich auf, ihre Stimme Du Pasquier zu geben. Im 4. Armeekorps bestehe eine «Fronde gegen den General» und es wäre deshalb «nicht gut», Kobelt zu wählen.

Du Pasquier scheidet jedoch im 4. Wahlgang aus, und in der Schlussausmarchung siegt Kobelt mit 117 gegen Crittin mit 98 Stimmen.

Pilet und der Gesamtbundesrat können mit dem Wahlergebnis zufrieden sein. Die bisherige Regierungsformel 4-2-1 bleibt. Zwei solide, eher konservative Verwaltungsmänner, die als tüchtig und konziliant gelten, werden die Kreise der fünf Bisherigen nicht stören. Der Jurist von Steiger scheint der geeignete Mann für das Justiz-und Polizeidepartement, der hohe Offizier Kobelt für das Militärdepartement.

Pilet wird eine erste Enttäuschung über das Scheitern seiner Freunde Béguin und Crittin rasch verwunden haben. Er kann froh sein, dass Feldmann, der sich von einem politischen Freund zum scharfen persönlichen Gegner entwickelt hat, auf der Strecke blieb. Es wird ihn nicht gestört haben, dass das Projekt C.J. Burckhardt gescheitert ist. Burckhardt hatte einige Tage vor der Bundesratswahl Pilet und Etter in Bern besucht. Pilet liess ihn dabei im Glauben, dass er seine Kandidatur befürworte. 

In einem Brief nach geschlagener Schlacht (15. 12.) berichtete Pilet dem gescheiterten IKRK-Gewaltigen, er und Etter hätten beraten, was für ihn getan werden könnte. Sie seien übereingekommen, «nur à coup sûr zu handeln, um jeden Misskredit für Sie selber, für Ihre Institution und das Land zu vermeiden». Eine Ausrede. Einem Bundesrat Burckhardt hätte Pilet auf öffentlichen Druck das Aussenministeramt überlassen müssen. Für ihn undenkbar.

Die Wahl von Präsident und Vizepräsident des Bundesrats für 1941 gibt den Unzufriedenen die Möglichkeit zu einer Unwillensdemonstration. Während Ernst Wetter als künftiger Bundespräsident sehr gute 176 Stimmen macht, muss sich Philipp Etter als Vize mit mickrigen 126 begnügen. Eine Quittung für ihn persönlich und für den angeblich autoritären «Kurs Pilet-Etter».


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 28.07.2024

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