Gefiederte Ameisenjäger
Viele Spechte leben im Wald, doch der Grünspecht zeigt sich recht häufig in Obstgärten und Siedlungsgebieten. Er bevorzugt halboffene Wiesenlandschaften mit Baumbestand und sucht vor allem am Boden nach Nahrung.
Text: Esther Wullschleger Schättin
Das Trommeln der Spechte ist im Frühling in den Wäldern allenthalben zu hören. Der Grünspecht ist in dieser Hinsicht untypisch, denn nur selten setzt er seinen Schnabel zu einem schwachen, unregelmässigen Trommelwirbel ein. Umso lauter erklingt sein kräftig vorgetragener Ruf «klü-klü-klü-klü-klü-klü», der an ein schallendes Lachen erinnert. So kommuniziert der Grünspecht seinen Territorialanspruch gegenüber den Artgenossen und sucht gleichzeitig die Aufmerksamkeit eines Weibchens.
Der Grünspecht zeigt sich relativ häufig in naturnahen Siedlungsgebieten, bevorzugt mit altem Baumbestand, etwa in Hochstamm-Obstkulturen oder in Parks und naturfreundlich gestalteten Gärten. Er ist nicht nur akustisch eine auffällige Erscheinung. Mit rund 32 Zentimetern Länge ist er nach dem Schwarzspecht der zweitgrösste Specht Mitteleuropas. Zudem ist sein Gefieder im Vergleich zu anderen heimischen Spechten ungewöhnlich farbenprächtig. Oberseits ist es oliv- bis gelbgrün und auf der Körperunterseite hell graugrün, während sich der rote Oberkopf und die schwarze Gesichtsmaske markant davon abzeichnen.
Die Geschlechter sind klar unterscheidbar, denn das Männchen weist einen roten, schwarz umsäumten Bartstreifen auf. Beim Weibchen ist dieser vollständig schwarz. Etwa ab späterem Juni sind auch die flügge gewordenen Jungspechte zu sehen, die auffallend gesprenkelt und erst matt gefärbt sind. Zunächst werden sie von den Eltern weiter gefüttert und ein paar Wochen lang geführt. Nicht selten teilt sich die Familie auf, und man sieht einen Altvogel mit zwei bis drei Jungen unterwegs zur Nahrungssuche.
Nach Ameisen «spechteln»
Abgesehen von den jungen Vögeln, die sich ihr Revier noch suchen müssen, sind die Grünspechte meist sehr standorttreu. Ihren idealen Lebensraum finden sie in Waldrandlagen, Lichtungen in Laubwäldern oder halboffenen Landschaften mit Gehölzen und vor allem auch alten Bäumen, wo sie ihre Nisthöhle zimmern können.
Im Kulturland sind extensiv gepflegte Wiesen ebenfalls ein wichtiges Element, denn der Grünspecht sucht im Gegensatz zu vielen anderen Spechten vornehmlich auf dem Boden nach Insektennahrung. Dabei bewegt sich der kräftige Vogel hüpfend fort, wirkt aber weniger schwerfällig als die mehr an Bäumen jagenden Spechtarten.
Er ist stark auf Ameisen spezialisiert und nimmt daneben weitere Insekten wie Käfer, Raupen, anderes Kleingetier sowie Beeren oder Früchte auf. So sieht man den Grünspecht gelegentlich auf der Wiese sitzen und konzentriert den Boden vor sich bearbeiten, wenn er nach Wiesenameisen stöbert und stochert. Er bleibt dabei stets vorsichtig und sichert immer wieder mit erhobenem Kopf die Umgebung.
Sein spechttypischer Meisselschnabel verbirgt eine dünne und biegsame, mehr als zehn Zentimeter lange Zunge, die bis weit in die Ameisengänge hineingelangt. Sie ist klebrig und im vorderen Bereich mit feinen, nach hinten gerichteten Borsten versehen, sodass der Grünspecht damit Ameisen und deren Larven und Puppen aus den Gängen «angeln» kann. Besonders im Winter, wenn der Boden gefroren ist, stöbert er auch häufig in Ameisenhaufen. Um die Insekten darin zu erreichen, bohrt er sich einen grossen, bis zu einem Meter tiefen Stollen in den Ameisenhaufen. In diesem hält er sich oft lange mit der Nahrungsaufnahme auf, bleibt aber immer wachsam und flieht bei Anzeichen von Gefahr sofort in die Bäume. Harte, schneereiche Winter setzen den Grünspechten zu und können vielen den Tod bringen, da sie dann zu wenig Nahrung finden.
Das offene Land ist zu gefährlich
Grünspechte meiden es, weite Strecken offenes Land zu überfliegen, wo sie Angreifern wie dem Sperber ausgesetzt wären. Wie andere Spechte tragen sie kurze runde Flügel und manövrieren damit äusserst wendig im Astgewirr, fliegen aber nicht besonders ausdauernd. Wenn der Grünspecht ohne Verfolgungsdruck fliegt, etwa vom Schlafplatz zu den Nahrungsgründen, tut er dies wie manche Kleinvögel in einem anmutig erscheinenden wellenartigen Flug. Bei diesem energiesparenden «Bolzenflug» legt er die Flügel immer wieder kurzzeitig an den Körper an und sinkt dadurch in der Flugbahn ab, um sogleich wieder zu flattern und an Höhe zu gewinnen. Der lautfreudige Grünspecht zählt zu den häufigsten der heimischen Spechte. Weit anspruchsvoller bezüglich seines Lebensraumes ist sein naher Verwandter, der etwas kleinere Grauspecht. Nur wirklich naturnahe, strukturreiche Wälder mit einem hohen Totholz-Anteil scheinen diesem in der Schweiz spärlich brütenden Specht entgegenzukommen. Der Grauspecht lebt sehr heimlich und vorsichtig, sodass er auch deswegen selten beobachtet wird. Seine Rufe klingen etwas feiner und flötend. ❋
Zimmerer der Vogelwelt
Die Spechte sind kräftige Vögel mit starkem Meisselschnabel, ganz daran angepasst, morsches Holz aufzuhacken und Insektenlarven darin aufzuspüren. Auch ihr Kopf ist sehr stabil gebaut, was die harten Aufprallschläge während des Meisselns abfedert.
Die Spechte sind die einzigen Vögel, die in unseren Wäldern ganze Bruthöhlen in morsche Stämme zimmern. Von ihrer «Arbeit» profitieren später viele weitere Tiere, die in Höhlen ihre Jungen aufziehen. Von Eulen über die Hohltaube bis zu verschiedenen Singvögeln, Siebenschläfern, Fledermäusen, Hornissen und Hummeln reicht die breite Palette dieser «Nachmieter».