59. Blaupause für die «neue» Schweiz Aus «Staatsmann im Sturm»

Nachdem die Gefahr eines deutschen Einmarsches kaum mehr besteht, konzentriert sich das Interesse der politischen, wirtschaftlichen und akademischen Elite auf die Frage, wie die Schweiz im durcheinander geratenen «neuen» Europa zu gestalten sei. Kommentatoren, Professoren und Politiker verkünden in Artikeln und Schriften ihre Zukunftsvisionen.

Eine dieser Broschüren, «La Suisse de demain» von Henry Vallotton, erscheint auch als «Die Schweiz von Morgen» in deutscher Übersetzung. Vallotton hat als freisinniger Fraktionschef und Nationalratspräsident von 1939 bei umstrittenen Geschäften oft eine entscheidende Rolle gespielt. Der Nationalrat verdankt ihm einige fortschrittliche Reformen wie die Einführung eines mit Mikrofon ausgestatteten Rednerpults. Minger hat kürzlich Feldmann gesagt, Vallotton mache Pilet «das Leben sauer», so dass dieser mit Rücktrittgedanken spiele. Würde der Waadtländer Sitz im Bundesrat frei, wäre Vallotton haushoher Favorit.

Vallotton hat die Schrift in seinem Ferienchalet in Grimentz geschrieben und datiert sie sinnvollerweise auf den 1. August. Er schreibt (in der Übersetzung des Thurgauer Verlegers Eugen Th. Riemli):

So schnell, wie wenn sie vom Blitz getroffen worden wäre, hat sich die Karte Europas verändert. Staaten verschwinden, andere wurden besetzt und eine Grossmacht ist zusammengebrochen. Von Petsamo bis Dünkirchen, vom Plateau de Langres bis zum Hafen von Narvik zeichnen Ruinen den Weg des Kriegs. Festungen, die für unbezwingbar gehalten wurden, fielen in wenigen Stunden. Flüsse, die als unüberschreitbar galten, wurden in einem Sprunge überquert. Die Ansichten und Voraussagen der tüchtigsten militärischen Fachleute erwiesen sich als falsch. Und der Krieg geht immer noch weiter.

Revolutionäre Zeiten. Lobend zitiert Vallotton indessen Bundeskanzler Bovet, der ihm einmal gesagt hat: «Die Schweiz ist ein Land der Evolution und nicht der Revolution, das lehrt unsere ganze Geschichte.»

Vallottons Schrift gleicht einem Wahlprogramm. Er setzt sich für die Familien, für die Frauen, für die Jungen ein. Die Jugend muss «zum Leben in der freien Luft und zum Sport erzogen werden», durch «Turnen, Schiessen, Alpinismus und Skisport ». Punkt 11 dürfte bei Fussballenthusiasten gut ankommen:

Die zur Verteidigung unserer Farben bestimmten Nationalmannschaften müssen auf Kosten des Staates sorgfältig ausgebildet und ausgerüstet werden.

Vallotton glaubt, die Bundesverfassung von 1872 sei überholt, eine neue Verfassung müsse ausgearbeitet werden. Er will nur wenig Änderungen. Der Föderalismus, das Zweikammersystem, der siebenköpfige Bundesrat, Initiative und Referendum sollen bleiben. Gemäss Vallotton müssen «Zusammensetzung und Mitgliederzahl des Nationalrats Gegenstand einer sorgfältigen Untersuchung sein». Geschickt bringt er die von Rechtskreisen gewünschte Umwandlung des Nationalrats in ein korporatistisches Gebilde ins Gespräch, ohne sich indessen festzulegen.

Vallotton will – wie Pilet und Etter – eine Verstärkung der Befugnisse und Autorität des Bundesrats. Die Regierung darf aber keine Diktatur werden, «was unserer Geschichte und unseren Aufassungen zuwiderlaufen würde». Die Stärkung des Bundesrats muss «im Rahmen der Demokratie und unter Kontrolle des Parlaments » erfolgen. Pilet würde hier, wie wohl in vielen andern Punkten, seinem früheren Weggenossen beipflichten. Mit Sicherheit jedoch nicht in Punkt 29:

Besondere Befugnisse werden einem Landammann (Bundespräsident) übertragen, der für drei (oder vier) Jahre gewählt wird und Chef der Regierung ist.

Pilet hat sich im Bundesrat immer dezidiert gegen die Idee eines «Landammanns» ausgesprochen. Er spielt zwar gerne den Regierungschef, den primus inter pares, aber er sieht die Vorteile einer Rotation. Ende 1934 war er heillos froh, das lastenreiche Amt des Bundespräsidenten abgeben zu können.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

In seiner Broschüre umschreibt Vallotton die Befugnisse, die er seinem Landammann geben würde:

Das persönliche Recht zur Einberufung des Parlamentes, das Recht, ein Departement zur Ausarbeitung einer Vorlage oder zu einem Bericht über eine solche Vorlage aufzufordern, das Recht, der Vorlage eines Departements den Einbezug in die Beratungen zu verweigern.

Vallotton schickt sein Büchlein Alt-Bundesrat Häberlin nach Frauenfeld, der am 1. September «aufrichtig dankt». Erfreut hat den Thurgauer, dass Vallotton an «das Problem der Schweiz von morgen ohne Verzagtheit» herangetreten ist:

Ich bin nämlich, offen gestanden, erschrocken, wie wenig ich diese Stimmung bei den heutigen Propheten antreffe, obwohl sie nicht selten die gleichen sind, die noch vor kurzem sich nicht genug tun konnten mit ihrem Mut und ihrer Verachtung für die Diktatoren. Ich gehöre gewiss nicht zu denjenigen, welche die Verbesserungsfähigkeit in unserem politischen, wirtschaftlichen, sozialen Leben bestreiten, habe vielleicht schon früher den Finger darauf gelegt als mancher Gockelhahn, der heute sein Anathema kräht; aber so grunderdenschlecht, wie’s heute oft tönt, ist unsere eidgenössische Welt wahrhaftig nicht.

Häberlin findet viele von Vallottons Anregungen «sympathisch», andere «zum mindestens diskussionsfähig», gesteht aber «der Ehrlichkeit halber», dass «ihr Landammann für drei oder vier Jahre» ihm «wider den Strich geht»:

Ich glaube, man verkenne die Vorteile des Kollegialsystems vielfach. Tatsächlich ist es ja in jedem solchen Kollegium so, dass es darin stets einen oder mehrere Köpfe gibt, die kraft ihrer besonderen Befähigung die Rolle des Landammanns spielen, auch wenn sie gerade nicht auf dem Präsidialstuhl sitzen. Man darf sich aber deshalb die Rolle der «kleinen Bundesräte» doch nicht bloss als ein hemmendes Element denken.

Häberlin ist bei seinen Besuchen am Scheuerrain aufgefallen oder ist ihm von seinem Nachfolger Baumann geklagt worden, dass Pilet und Etter in der Regierung gerne die «duum viri» spielen – wie im alten Rom die beiden Konsuln genannt wurden –, während die fünf «divi minores» – die andern, von Häberlin ironisch als «mindere Götter» bezeichnet – wenig Einfluss haben.

Pilet wird bei der Lektüre der Broschüre gemerkt haben, dass einzelne Passagen auf ihn gemünzt sind. So die ehrfurchtsvollen Worte über «das Werk von Bundesrat Motta», den Vallotton als hervorragenden Diplomaten lobt: Er habe alles getan, «um die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zu erleichtern»:

Wir stellen fest, dass die Schweiz eine Politik des Friedens gemacht hat, dass sie stets (soweit es ihr ihre bescheidenen Kräfte erlaubte) bestrebte, die Gegner von 1914 einander näher zu bringen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 03.03.2024

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