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Sterben üben

Wer sich mit dem Sterben auseinandersetzt, hat ein intensiveres Leben, sagt die Sterbeamme Karin Simon. Ihr Buch beantwortet alle Fragen rund um den ganz grossen Abschied.

Text: Claudia Senn

Früher, es ist bloss ein oder zwei Generationen her, da fand das Sterben noch ganz selbstverständlich im heimischen Schlafzimmer statt. Die Verwandtschaft versammelte sich am Sterbebett, sass da und wartete. Hin und wieder seufzte jemand, schüttelte ein Kissen auf, streichelte mitfühlend eine Wange. Und niemand kam auf die Idee, beim Psychologen nachzufragen, ob der kleine Maximilian-Constantin einen bleibenden Schaden davontragen würde, wenn er seinen Grosspapi als Leiche sieht. 

Heute ist das Sterben aus unserem Alltag weitestgehend verschwunden, wegdelegiert an Spitäler, Pflegeheime, Hospizeinrichtungen. Die wenigsten haben jemals einen «echten» Toten gesehen, dafür allabendlich unzählige Krimi-Leichen im Fernsehen. Doch tun wir uns wirklich einen Gefallen damit, den Tod aus unserem Leben so konsequent herauszuhalten?

Portrait von Autorin Karin Simon
Karin Simon © Vera Gabler

Karin Simon findet, nein. Es koste viel Kraft, den Tod zu verdrängen, sagt sie. Die könne man auch besser nutzen. «Dem Tod davonzulaufen, heisst, vor seinem eigenen Leben davonzulaufen, denn ein Leben ohne Tod gibt es nicht.» Die Deutsche ist 64 Jahre alt, von mütterlicher Herzlichkeit und bayerischem Frohsinn. Sie war lange Zeit Pflegefachfrau, hat Hunderte Menschen sterben sehen. Meist breite sich am Ende ein grosser Friede aus, «und oft bleibt als Letztes ein Lächeln.» Zweimal ist sie auch schon selbst dem Tod von der Schippe gesprungen. Mit drei Jahren wäre sie beinahe ertrunken, ein paar Jahrzehnte später fast an Krebs gestorben.

Nur logisch, dass sie schliesslich einen Beruf ergriff, den es in der Schweiz erst seit ganz Kurzem, in Deutschland aber schon länger gibt: Karin Simon ist ausgebildete Sterbeamme. Ähnlich wie eine Hebamme, die Kindern dabei hilft, auf die Welt zu kommen, hilft sie den Sterbenden, sie wieder zu verlassen. «Wir alle sind schwanger mit unserem Tod», sagt sie, «von Geburt an.» Doch weil das Thema für viele so angstbeladen und geheimnisvoll ist, dass sie es kaum wagen, sich damit zu beschäftigen, hat sie nun ein Buch geschrieben, das sich wie ein Pflaster auf unsere Unsicherheiten legen soll. Kaum eine Frage rund um den gelungenen Abgang von dieser Welt, die hier nicht patent und gut verständlich beantwortet wird. Wieso plagen sich soviele Sterbende mit Schuldgefühlen? Welche Zeichen deuten auf das baldige Ende hin? Warum sollte man auf keinen Fall so tun, als würde «alles wieder gut werden»? Und welche hilflosen Bemerkungen möchte eine Trauernde ganz bestimmt nicht hören? Nur was nach dem Tod kommt, das weiss auch Karin Simon nicht. Aber sie glaubt an Wiedergeburt. Manche Passagen muten deshalb etwas esoterisch an. Doch man kann sich als Leserin oder Leser darauf einlassen, auch wenn man anderer Meinung ist.

Natürlich gehe es in ihrem Buch über das Sterben vor allem um das Leben, sagt Karin Simon. Sei man sich erst einmal bewusst, wie schnell alles zu Ende sein könne, bekomme das Leben eine ganz neue Qualität. Manch ein Krebspatient empfindet die kurze Zeit, die ihm nach seiner Diagnose bleibt, als reicher und intensiver als die vielen Jahrzehnte davor. Irgendwann seien alle an der Reihe, «und es schadet nicht, wenn man schon mal ein bisschen geübt hat.»

Dass das nicht bleischwer und deprimierend sein muss, beweist Karin Simon auch auf der Bühne. Im Nebenamt ist sie Kabarettistin, genauer: «Sterbekabarettistin». Die ersten Lacher seien stets verhalten, weil sich die Leute unsicher seien, ob man so etwas darf: Lachen über den Tod. Doch irgendwann vergässen sie ihre Zurückhaltung und amüsierten sich einfach. Den Tod mit Humor nehmen – auch das kann gelingen, aber nur, wenn man es versucht.

Karin Simon: «Von Bleiben war nie die Rede».
Knaur-Menssana-Verlag, München 2023, 240 Seiten, ca. 30 Franken.


  • Lesen Sie auch unseren Artikel zum «Letzte-Hilfe-Kurs», der Basiswissen zum Thema Lebensende und Tod vermittelt. Er will Angehörige, Freunde und Nachbarn ermuntern und befähigen, Sterbenden bis zuletzt nahe zu sein.
Beitrag vom 12.10.2023

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