37. Genesis einer Rede Aus «Staatsmann im Sturm»

Mit dem Abschluss des Waffenstillstands hält Pilet den Zeitpunkt für gekommen, um seinen Landsleuten über die neue Lage in Europa und deren Auswirkungen auf die Schweiz Bericht zu erstatten. Am Sonntag, 23. Juni, setzt sich der Bundespräsident am Scheuerrain an seinen Schreibtisch, um den Entwurf zu einer Rede niederzuschreiben. Er will sie halten, sobald auch der Waffenstillstand zwischen Italien und Frankreich abgeschlossen ist und an unseren Grenzen die Waffen schweigen. Als er sich Inhalt und Worte seiner geplanten Radioansprache überlegt, ahnt er nicht, dass diese Rede dereinst von Historikern seziert und verurteilt werden wird. Wenn er gewusst hätte, dass die «Rede vom 25. Juni 1940» auf alle Zeiten das Bild prägen wird, das sich die Nachwelt vom «Anpasser Pilet-Golaz» machen wird! Pilets handschriftlicher, natürlich französisch geschriebener Entwurf, datiert 23. Juni, beginnt:

1. Schweigen von einigen Wochen – sehen, voraussehen – entscheiden. Handeln, nicht reden. 
Wenn ich mich ans Schweizervolk wende, ist dies, weil ein wichtiges Ereignis geschehen ist.

2. Waffenstillstand
Was auch immer die Trauer über die angehäuften Schmerzen, Erleichterung zu wissen, dass sich unsere drei grossen Nachbarn – mit denen wir derart enge kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen haben, und die sich wie ihre grossen Flüsse, die dem Gotthard entspringen, sich bei uns treffen – auf dem Weg zum Frieden befinden. Aber dies so menschliche Gefühl, vor allem bei den bis jetzt verschonten Neutralen, [dürfen uns] nicht gefährlichen Illusionen hingeben.
Die vergangene Zeit wird nicht wiederkehren.

3. Der Waffenstillstand bedeutet noch nicht den Frieden in Europa.

Was heisst dies für die Schweiz? Pilet in seinen Notizen:

Zweifellos können wir in naher Zukunft eine teilweise und stufenweise Demobilmachung unserer Armee in Aussicht nehmen, wobei wir die Möglichkeiten unserer nationalen Volkswirtschaft berücksichtigen müssen, die zutiefst verändert sind, seit der Krieg nicht mehr an unseren Grenzen wütet.

Im Entwurf warnt der Bundespräsident, dass Stille und Ruhe in Europa noch lange nicht eingekehrt sind, dass «die Feindseligkeiten mit dem britischen Empire auf dem Meer und in der Luft andauern»:

Der Kontinent muss sein neues, vom alten sehr verschiedenes, Gleichgewicht finden, das sich zweifellos nicht auf die gleichen Grundlagen stützen wird wie diejenigen, die der Völkerbund während zwanzig Jahren vergeblicher Anstrengungen zu errichten bestrebte.

Das redressement, die Stabilisierung, heisst es in den Notizen weiter, werde auf allen Gebieten mächtige Anstrengungen erfordern, die ausserhalb «ausgedienter Formeln » (formules périmées) unternommen werden müssten:

Unser Handel und unsere Industrie, unsere Landwirtschaft müssen sich neuen Umständen anpassen (adapter). Vergessen wir nicht, der Weg nach Übersee ist uns beinahe verschlossen. Import und Export sind gegenwärtig blockiert und müssen neue Routen finden.

Dies, befindet der Bundespräsident, werde nicht «ohne Entbehrung und ohne Opfer » gehen. Pilet braucht das Wort dépouillement, das ursprünglich die Enthäutung eines Tiers bedeutete. Es wird auch für die Entblätterung des Baums gebraucht, der dann am Ende nackt und arm dasteht. Pilet denkt an die Paulus-Worte: «Il vous faut abandonner votre premier genre de vie et dépouiller le vieil homme», auf Deutsch, in Epheser 4, 22: «Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.» Im Entwurf fehlt der Satz, der dann in der deutschen Schlussfassung der Rede so erscheint:

Der Zeit der inneren Wiedergeburt ist gekommen. Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.

Wenn Pilet in seinen Notizen von «anpassen» schreibt, dann geht aus dem Zusammenhang hervor, dass er damit die Anpassung der Schweizer Wirtschaft an die neue Lage meint. Keineswegs denkt er, wie ihm Kritiker und Historiker dies später vorhalten werden, um eine politische Anpassung an den Nationalsozialismus. «Den alten Menschen ablegen» bedeutet nicht, wie man ihm dies später auslegen wird, dass sich der Schweizer als «neuer Mensch» in Hitlers «neues Europa» einfügen solle. Was er damit meint, verdeutlicht er an anderer Stelle in seinem Redeentwurf:

In einer verarmten Welt müssen wir uns einschränken, mit den Opfern, den Benachteiligten, den Schwachen teilen. Nicht Almosen, nicht das Überflüssige, einen Teil des Notwenigen [hingeben], wie das Scherflein der Witwe in der Heiligen Schrift.

Im Redeentwurf schreibt Pilet von den beträchtlichen Hindernissen, die zu überwinden seien. Resolut müsse man nach vorne blicken, «um bei der Wiederaufrichtung unserer zerrütteten alten Welt mitzuwirken»:

Ich habe die Wahrheit versprochen.
Die Zeit der Ablegung des alten Menschen ist gekommen.
Nicht lange reden (disserter), sondern tätig sein (oeuvrer).
Nicht geniessen (jouir), sondern produzieren.
Nicht fordern, sondern geben.
Nicht palavern, sondern entwerfen, anordnen und ausführen (concevoir, ordonner exécuter)

Dies werde nicht ohne materielles und psychologisches Leiden gehen. Man werde auf viele Annehmlichkeiten verzichten, viel Mühe aufbringen müssen, um ein bescheidenes Ergebnis zu erreichen:

Es ist die Anstrengung, die Freude macht. Fragt die Sportsleute. (C’est l’effort qui fait la joie. Demandez-le aux sportifs.)

Pilet ist kein Sportsmann. Er sieht sich gelegentlich einen Fussballmatch an, aber er ist körperlich linkisch und wenig sportlich. Erinnert er sich bei der Anspielung auf die sportifs an die eigene Pariser Studienzeit? Dort ging er fast täglich in die manège zu einem Reitlehrer ins Training und brachte dank seiner Hartnäckigkeit einmal gar eine «Voltige» zustande. Bescheidener Erfolg für grosse Mühe.

Die Notizen für die Rede enthalten zum Schluss einen Appell zu Solidarität (der «Taten, nicht der Worte»), Ordnung, Disziplin, Einheit, «Vertrauen in die andern, die Chefs und die Untergeordneten»:

Dienen
Die Ruhe, die Entschlossenheit und die Hingabe [sind es], welche die ganze Grösse und das Wohlergehen der Nationen ausmachen, so klein sie auch scheinen mögen. So werden wir die Schwierigkeiten überwinden. So werden wir unsere Zukunft gewinnen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Die Notizen, rasch hingeworfen, lassen auf eine gut aufgebaute, klare Rede schliessen, die sich Pilet ausgedacht hat. Die Worte sind verständlich, die Absicht ersichtlich. Ein verunsichertes Volk soll auf schwere Zeiten vorbereitet werden und gleichzeitig neuen Mut fassen. Der Bundespräsident will die Rede halten, sobald die Waffen ruhen. Noch wird nämlich in Frankreich gekämpft. Eben haben die Deutschen Tours eingenommen.

Am Montag, 24. Juni, verbreitet die Schweizerische Depeschenagentur die Meldung, dass der französisch-italienische Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet worden ist. Am nächsten Morgen, 25. Juni, um 01 Uhr 35 werden die Feindseligkeiten zwischen Frankreich einerseits, Deutschland und Italien andererseits eingestellt werden. Für Pilet ist jetzt klar, dass «das wichtige Ereignis» geschehen ist und dass er seine Ansprache am nächsten Tag halten muss. Er lädt die Kollegen Etter und Minger sowie Verbindungsoffizier Gut zu sich an den Scheuerrain ein, wo er mit ihnen die von Gut aufgesetzten Weisungen des Bundesrats an die Presse und die Radiorede besprechen will. 

24. Juni. In ihrer abendlichen Diskussion in der Privatwohnung des Bundespräsidenten legen sich Pilet, Minger und Etter für die zu haltende Ansprache drei Hauptpunkte fest. Erstens Bekämpfung des in Armee und Land um sich greifenden Defaitismus; zweitens Entschlossenheit des Bundesrats, für Arbeit zu sorgen; drittens Stärkung des Vertrauens in den Bundesrat. Nachdem sich seine Gäste verabschiedet haben, macht sich Pilet an die Abfassung des vereinbarten Texts. Er nimmt Anregungen auf, die während der abendlichen Diskussion gemacht worden sind, und bettet sie in seine Rede ein.

Das Versprechen «Die Arbeit! Der Bundesrat wird sie dem Schweizervolk unter allen Umständen beschaffen, koste es, was es wolle», fehlt in Pilets sonntäglichem Redeentwurf. Die Anregung könnte von Minger, dem interimistischen Chef des Volkswirtschaftsdepartements, gekommen sein. Pilet selber benutzt den Ausdruck coûte que coûte gerne. Er hat wie Minger und Etter das Jahr 1918 in Erinnerung und weiss wie sie, dass ein Waffenstillstand nach langem Krieg von Arbeitslosigkeit und sozialen Unruhen gefolgt sein kann.

Die in der Schlussfassung vorhandene Ausdeutung von Pilets lapidarem Leitwort «Nicht palavern, sondern planen, anordnen und ausführen» muss auf die Diskussion am Scheuerrain zurückgehen. In der deutschen Endfassung wird es heissen, dass «wichtige Entscheidungen» nötig sein werden:

Und zwar nicht solche, über die wir lange beraten, diskutieren und abwägen können. Also Beschlüsse, die gleichzeitig überlegt und rasch und auf Grund eigener Machtbefugnisse (décisions prises d’autorité) sein werden.

Haben die «eigenen Machtbefugnisse» auf Vorschlag Etters den Weg in die Rede gefunden? Der Zuger Konservative hat eine Vorliebe für straffes Regieren und pflegt enge Beziehungen zu Gonzague de Reynold, der die Diktatoren Mussolini, Franco und Salazar schätzt. Auch Pilet legt Wert auf Autorität. Er hat schon in jungen Jahren – als Belles-Lettres-Präsident und als militärischer Kommandant – gerne die natürliche «autorité» betont, die eine Führungspersönlichkeit haben müsse, um sich durchsetzen zu können.

In ihren Beratungen, die bis gegen Mitternacht dauern, beschliessen Pilet, Etter und Minger, dass die Ansprache des Bundespräsidenten am nächsten Tag im Radio, und zwar nach den Mittagsnachrichten, in den drei Landessprachen verlesen werden soll: Von Pilet auf Französisch, Etter auf Deutsch, Celio auf Italienisch.

Nachdem er spätabends seine Gäste verabschiedet hat, macht sich Pilet an die Abfassung des vereinbarten Texts. Er würzt die Rede mit ein paar Formulierungen, die er für elegant, ironisch oder besonders treffend hält.



«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv   

Beitrag vom 01.10.2023

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