Die Ackerschmalwand hat ein beneidenswertes Zeitmanagement © shutterstock

Was man von Pflanzen lernen kann

Die Forschung weiss: Pflanzen folgen einem festen Lebensplan, die innere Uhr gibt ihnen exakt den Takt vor. Unser Gartenpost-Autor beneidet sie um dieses Räderwerk.

Text: Roland Grüter

So schade! In meiner Ahnenkette finden sich einzig Entlebucherinnen und Entlebucher – viel lieber wäre ich aber mit der Ackerschmalwand verwandt. Denn die unscheinbare Pflanze, die an den ungastlichsten Stellen wächst, ist ein Genie in Sachen Zeitmanagement. Sie lebt nur kurz und nutzt davon jede Minute. Die innere Uhr gibt dem kleinen Gewächs verlässlich den Takt an. Keine Leerläufe, alles ist vorprogrammiert. Davon kann ich (leider) nur träumen. Meine Luzerner Gene ticken weit weniger verlässlich. Deshalb hasple ich mich seit jeher durch mein Leben, so wie der legendäre Weisse Hase in «Alice im Wunderland». Sie wissen: «Zu spät, zu spät, zu spät – ich komme wieder mal zu spät.»

Die Ackerschmalwand steht mit ihrem genetischen Drang nicht alleine. Alle Pflanzen sind mit einer inneren Uhr ausgestattet. Sie ist für das Grün lebenswichtig. Weil Margeriten und Mohn, Salate und Gurken festgewachsen sind, können sie sich die Umweltbedingungen ja nicht aussuchen. Deren innere Uhren aber helfen ihnen dabei, sich diesen anzupassen, Energien und Kapazitäten zu schonen – und über den Tag und übers Jahr klare Prioritäten zu setzen. Am Morgen öffnen sie die Schleusen für die Nahrungszufuhr (Photosynthese), abends drosseln sie die Aktivitäten der Zellen, sobald das Licht wegdämmert. Bäume «wissen» deshalb beispielsweise verlässlich, wann es Zeit wird, das Laub abzuwerfen. 

So gesehen, können Pflanzen dank der inneren Uhr in die Zukunft schauen. So weiss beispielsweise ein Hibiscus bereits Stunden bevor die Sonne aufgeht, wann er seinen Stoffwechsel auf die Photosynthese vorbereiten sollte. «Zeitmessung ist eine der grundlegenden Anpassungen des Lebens», sagte einst ein Forscher, der entsprechende Zusammenhänge erforscht und nachgewiesen hat. Seine Folgerung: «Die innere Uhr erlaubt es Pflanzen, sich vorzubereiten auf das, was kommt. Dadurch können sie agieren – und nicht bloss reagieren.» Eine Fähigkeit, um die ich die Ackerschmalwand und Konsorten ebenfalls beneide.

Eine Hibiscusblüte wird von der Sonne angestrahlt. Zeitlupe
Ein Hibiscus weiss, wann er sich auf die Photosynthese vorbereiten sollte. © pixabay

Im Gleichtakt mit den anderen

Die innere Uhr regelt nicht nur das Gedeihen einzelner Pflänzchen, sie orchestriert auch das Zusammensein untereinander. Sie signalisiert Tulpen oder Herbstanemonen, wann sie Blüten bilden sollen: Manche Spezies blühen deshalb im Frühjahr, noch bevor die ersten Blätter wachsen, andere erst später im Jahr. Entscheidend ist dabei, dass sie sich darin im Gleichtakt mit Artgenossinnen und Artgenossen befinden: Denn wer zur falschen Zeit blüht, findet keinen Partner. Übersetzt auf den Menschen bedeutet das: Wer zu spät zu einem Date erscheint, bleibt alleine. 

Der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) hörte das Ticken der Blumen bereits im 18. Jahrhundert. Er beobachtete in seinem Garten 70 Blühpflanzen und stellte dabei fest, dass gewisse Aktivitäten ein Leben lang zur gleichen Tages- oder Nachtzeit stattfinden. Morgens punkt 6 Uhr öffnet beispielsweise der Rote Pippau seine Blüten, um 9 Uhr folgt die Ringelblume, um 13 Uhr die Tigerlilie und am späten Nachmittag, um 17 Uhr, die Nachtkerze. Linné legte in der Folge eine Blumenuhr an, an der er verlässlich die Zeit ablesen konnte. Mittlerweile wissen Biologen: Die inneren Uhren der verschiedenen Pflanzen sind aufeinander abgestimmt: Würden sie alle zur gleichen Zeit blühen, müssten sie viel zu stark um Schmetterlinge, Bienen oder Hummeln buhlen und gingen eventuell vergessen. Damit wäre ihre Fortpflanzung gefährdet. Also balzen sie lieber in kleinen Gruppen um deren Gunst.

An einer Erdbeerpflanze hängen üppige Erdbeeren.
Wer die innere Uhr von Gartenerdbeeren berücksichtigt, wird belohnt. © pixabay

Oft genug versuchen Hobbygärtnerinnen und Hobbygärtner, an der inneren Uhr der Pflanzen zu drehen. Sie versuchen Gemüse schneller wachsen zu lassen oder streuen Samen ausserhalb des vorgesehenen Zeitfensters aus und wundern sich in der Folge darüber, dass daraus keine kräftigen Pflanzen wachsen. Würden sie sich an den genetisch vorgegebenen Laufplan halten, wäre ihr Erfolg weit grösser. Ein Beispiel: Wer Gartenerdbeeren zwischen 20. Juli und Mitte August setzt, wird im Folgejahr mit einer reichen Ernte belohnt. Denn diese Sorten legen ihre Blütenstände erst an kürzer werdenden Tagen und bei sinkenden Temperaturen an, also ab Ende August bis in den Oktober. Wer das weiss und darauf achtet, macht sich und seine Pflanzen glücklicher. 

Gemeinhin gilt: Können Pflanzen ihrem inneren Rhythmus nicht folgen, serbeln sie oder sterben komplett ab. Das sollte uns Menschen zu denken geben. Leider fehlt es uns an der Zeit, genauer darüber nachzudenken. Zumindest mir ergeht es so: Wahrscheinlich ist der weisse Märchenhase ein gebürtiger Entlebucher.

Roland Grüter (60) ist leidenschaftlicher Hobbygärtner und folgt strikt den Regeln des Bio-Gärtnerns. Sein erstes Reich hat er vor 40 Jahren aus Not angelegt – er wollte die Pflanzen aus dem Garten eines Hauses retten, das abgerissen wurde. Heute lebt er in der Nähe von Zürich und hegt und pflegt einen kunterbunten, wilden Blumengarten. Eine Ecke ist darin für Gemüse reserviert. Roland Grüter schreibt an dieser Stelle regelmässig über seinen Spass und seine Spleens im grünen Bereich.



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Beitrag vom 20.05.2021

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