Raus aus dem Alltag, um Neues auszuprobieren. Dieses Mal: Franz Ermel nimmt an einem Morgengebet in einer Synagoge in Zürich teil.
Text: Franz Ermel
Zürich, Löwenstrasse, 9 Uhr, es ist Schabbat. Ich bin mit Ben verabredet, der mich zum Morgengebet mitnehmen wird. Vor dem Eingang der Synagoge stehen zwei Sicherheitskräfte – «das ist leider so», sagt Ben entschuldigend. Wir passieren und betreten einen Vorraum. Sogleich erscheint ein Mann an der Tür zum Gebetsraum und mahnt uns zur Eile – es fehle noch einer. Ben klärt mich auf: Für einen Gottesdienst brauche es zehn jüdische Männer, offenbar seien erst neun anwesend.
Der Raum, den wir betreten, ist hell und ähnelt einer Kirche. Beidseits des Mittelgangs sind Bankreihen angeordnet. Ein paar Männer sitzen da. Über ihnen eine Empore, wo ich zwei, drei Frauen erblicke. Vorne befindet sich der Toraschrein, davor ein Pult, an dem der Vorbeter Schabbatgebete in Hebräisch spricht. Ben reicht mir eine Kippa, die traditionelle runde Kopfbedeckung – sich zu bedecken ist Pflicht.
Wir nehmen im hinteren Teil der Synagoge Platz. Ben beteiligt sich zeitweise an den Gebeten, er murmelt auf Hebräisch mit oder antwortet dem Vorbeter im Chor mit anderen. Dazwischen erklärt er mir den Ablauf des Gottesdienstes und beantwortet geduldig meine Fragen. Das ist hier ohne Weiteres möglich, anders als in christlichen Kirchen herrscht eine sehr ungezwungene Atmosphäre. Viele unterhalten sich während und zwischen den Gebeten halblaut miteinander. Ein «Candyman» geht durch die Reihen und verteilt Ricola. Kinder huschen vorbei und tuscheln.
Es gibt auch keine feste Startzeit. Immer wieder stossen weitere Gläubige dazu. Die meisten kennen sich, schütteln sich die Hand und wünschen sich auf Jiddisch «Gut Schabbes» oder auf Hebräisch «Schabbat Schalom». Bald schon drücke auch ich Hände und murmle noch etwas unbeholfen «Gut Schabbes!» Ich fühle mich gut aufgenommen und folge dem Geschehen fasziniert.
Nach einer guten Stunde steuert der Gottesdienst auf seinen Höhepunkt zu, die Lesung aus der Tora, den fünf Büchern Mose. In einer feierlichen Zeremonie wird dem Schrein eine Torarolle entnommen; ein
Kantor liest daraus in traditioneller Melodie vor. Die Stimmung ist jetzt ernster. Sie löst sich erst wieder, als die Lesung zu Ende ist. Es folgen eine Predigt und ein paar letzte Gebete auf Deutsch.
Wenige Minuten später stehe ich wieder draussen auf der Löwenstrasse – vom schnellen Wechsel noch etwas benommen, vor allem aber berührt und bereichert.![]()
Der Besuch einer Synagoge oder eines Gottesdienstes ist in vielen jüdischen Gemeinden möglich, meistens aber nur nach Voranmeldung. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG), der nationale Dachverband der jüdischen Gemeinden, führt auf seiner Website ein Mitgliederverzeichnis mit den entsprechenden Kontaktmöglichkeiten.