Raus aus der Komfortzone! Wir probieren neue Dinge aus. Diesmal: Zeitlupe-Redaktor Roland Grüter hat ein Rendez-vous mit dem Jenseits. Er spricht mit seinem verstorbenen Partner.
Schon nach wenigen Minuten fliessen die Tränen. Ohne jegliche Erwartungen bin ich zu Andrea Popp nach Heiden gereist, einer früheren Krankenschwester. Schon im Spital sprach sie ständig mit Sterbenden und Toten, wie sie mir erzählt. Nun bietet sie «Herzbegleitung für Körper und Seele» an, ist unter anderem Vermittlerin zwischen dem Dies- und Jenseits.
Schon lange liebäugelte ich damit, meinen verstorbenen Partner zu besuchen. Er hatte sich vor fünf Jahren das Leben genommen. Erst hatte ich Schiss, den Plan anzugehen. Eine Freundin steckte mir schliesslich die Adresse von Andrea Popp zu. Also griff ich zum Telefon, machte mit ihr einen Termin aus, ohne Details zu nennen. Nun stehe ich vor ihrem Haus.
Die Tür öffnet sich, eine Frau mit rundem Gesicht streckt mir die Hand entgegen. Kaum hat sie mir den Mantel abgenommen, beginnt sie laut loszuplappern. Ich bin irritiert. Spiritualität hatte ich mir leiser vorgestellt. «Kommen Sie rein, heute ist aber auch ein Tag! Alle wollten mit ihren verblichenen Männern sprechen, und ich dachte, als ich ihren Namen in der Agenda las: Gut, dass die Serie ein Ende hat.» Sie kichert. «Doch oha, da hatte ich mich getäuscht. Ich wurde aus der anderen Welt zurechtgewiesen: Auch bei Ihnen geht es offenbar um den Partner. Fangen wir an.»
«Die Begegnung ist beeindruckend.»
Die Frau führt mich in einen spärlich möblierten Raum. Keine Glaskugel, kein Hokuspokus – dafür versprüht Andrea Popp eine explosive Energie. Kaum haben wir ins Gespräch gefunden, sagt sie: «Ihr Partner ist übrigens schon da. Er steht hinter Ihnen und zupft sich die Haare zurecht. Ein eitler Fratz. Anzug, Hemd, Gürtel und Schuhe – alles aufeinander abgestimmt.» Ich schlucke leer, denn Thomas war tatsächlich sehr gepflegt und trug oft formelle Kleidung. Treffer.
Wir sprechen weiter. Wie sie den Alltag mit den drei Kindern schafft, über die Schliessung des regionalen Spitals, dann sagt sie plötzlich: «Seltsam, der Mann fuchtelt ständig mit einem leeren Stück Papier, und ich kann mir nicht erklären, was er mir sagen will. Haben Sie dafür eine Erklärung?» Habe ich. Thomas ist gegangen, ohne einen Brief zu hinterlassen. «Volltreffer», grätscht Andrea Popp in meine Erläuterungen. «Er sagt, dass zwischen Ihnen schon alles gesagt gewesen sei, dass er dem nichts hinzuzufügen hatte.» Thomas und ich waren tatsächlich in ständigem Gespräch. Seine beginnende Demenz, seine Angst vor dem Kontrollverlust: alles besprochen.
Ich bin geschockt. In wenigen Minuten hat mich Andrea Popp zurück ins damalige Elend geführt – und mir erklärt, was unerklärbar schien. Als sie mir mitteilt, dass sich Thomas dafür entschuldige, dass er seine Wut auf sein Los auch auf mich übertragen hatte, bricht der Damm endgültig: Ich beginne zu heulen. Woher kann die Frau all die Details wissen? Erfunden, gut kombiniert oder tatsächlich aus dem Jenseits zugeflüstert bekommen? Keine Ahnung. Letztendlich ist es egal. Die Begegnung ist beeindruckend und berührend.
Eine Stunde lang stelle ich Thomas meine Fragen. Die Antworten sollen an dieser Stelle privat bleiben. Nur so viel: Als ich ihn darauf anspreche, weshalb er sich nach seinem Weggang nie bemerkbar gemacht hat, antwortet er: «Du kannst mich riechen, nur magst du den Duft nicht.» Wieder muss ich heulen. Seit Wochen sticht mir der immergleiche Geruch in die Nase. Erst dachte ich, er sei auf die Coronainfektion zurückzuführen. Nun weiss ich, es ist Thomas. Auch das: wundersam.
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