Märchenhaft: das Tal der Seine
Erleben und erwandern Sie das Tal der Seine südlich von Paris. Schlösser, Villen und Gemälde zeigen, dass es hier auch Königen und Künstlern gefiel. Doch die Hauptrolle spielt der Wald – mit Elefanten und Dinosauriern.
Text: Annegret Honegger
Vom Pariser Grossstadtdschungel dauert es mit dem Zug nur eine Stunde bis in die tiefste Waldesruhe. Umgeben von Föhren, Farnen, Eichen und Buchen erlebt man sie im Wald von Fontainebleau, mit 25000 Hektar eines der grössten Waldgebiete Westeuropas.
Wo die Baumkronen im Wind rauschen, plätscherte vor 25 Millionen Jahren ein warmes, tropisches Meer. Bis heute erinnern die oft mit goldenem Sand bedeckten Wanderwege daran. Als das Wasser verschwand und sich der Sand zu Gestein verfestigte, modellierten Flüsse und Erosion ein Felsenmeer aus bizarr geformten Steinblöcken.
Fast ehrfürchtig begeht man Schluchten, Höhlen und Stufen, welche die Naturgewalten über Jahrmillionen schufen. Da ein Elefant! Dort ein Nashorn! Dann wieder wirken die Felsen wie eine Gruppe schlafender Riesenschildkröten. Oder wie Dinosaurier, erstarrt wie die Bewohner von Pompeji unter der Vulkanasche.
Im urtümlichen Wald von Fontainebleau erinnern manche Felsformationen an Tiere, so wie der Elefantenstein (links). Auf den 25000 Hektaren lässt sich herrlich wandern. © shutterstock
Kein Wunder, begingen hier Steinzeitmenschen religiöse Rituale, erkennbar an Ritzmustern an den Felswänden.Auch Miraculix könnte in einer Druidenhöhle seinen berühmten Zaubertrank gebraut haben. Wildschweine jedenfalls gäbe es den Wühlspuren im weichen Boden nach genug für hungrige Gallier.
Kein Wunder auch, fanden hier berühmte Maler ihre Motive. Die Impressionisten wollten um 1830 nicht mehr in stickigen Ateliers arbeiten, sondern weg aus den zunehmend industrialisierten Städten, weg von den starren Regeln der Kunstakademien und hinaus in die Natur. Auch dank der Erfindung von Malfarben in Tuben stellten sie ihre Staffeleien erstmals unter freiem Himmel auf und fingen das Spiel von Licht und Schatten ein. Den Malern folgten Dichter, Fotografen und Filmemacher, später Wanderer, Reiter und Kletterer, welche die Schönheit dieses Waldes mit ihren Texten, Bildern und Instagram-Posts in die Welt hinaus trugen und tragen.
Auch in den Dörfern und Städtchen am Ufer der Seine begegnet man der Vergangenheit auf Schritt und Tritt. Auf dem Fluss ziehen lange Lastenschiffe vorbei, die Péniches, die schon früher Holz, Steine und Sand aus dem Wald transportierten. Daraus entstanden Paläste und Kathedralen, Pflastersteine für die Pariser Strassen, Eichenfässer für edle Weine und das berühmte Muranoglas in Venedig.
Der helle hiesige Sandstein prägt die Fassaden von Villen und Kirchen der Gegend und eines der Meisterwerke der Renaissance: Schloss Fontainebleau. Es gilt als das opulenteste aller französischen Schlösser und ist Teil des Weltkulturerbes. In der riesigen Anlage mit 1500 Räumen residierten durch die Jahrhunderte 34 Könige und 2 Kaiser. Alljährlich zog auch Sonnenkönig Louis XIV mit dem Hofstaat hierher, um zu jagen, während sein Stammschloss in Versailles – mit 2300 Räumen etwas grösser – dem Jahresputz unterzogen wurde.
So kommt auf dieser Reise im Wald und an der Seine, im Schloss samt Park und in den im doppelten Sinne malerischen Dörfern einiges zusammen auf dem Schrittzähler. Gut, dass am Abend mit dem «Cheval Noir» ein angenehmes Hotel in Moret-sur-Loing auf die wandermüden Füsse wartet. Wobei: Auch hier lohnt sich ein Spaziergang.
Das Städtchen am Ufer des Loing, der weiter flussabwärts in die Seine mündet, ist Frankreich im Miniaturformat. Es bietet einen mittelalterlichen Stadtkern mit befestigten Stadttoren, eine gotische Kirche mit farbigen Glasfenstern, eine Burg mit Turm, elegante Renaissance-Fassaden. Läden, Cafés, Restaurants und den Artisan-Glacier «mille et une glaces».
Falls Ihnen beim Schlendern dem Loing entlang mit dem Cornet in der Hand der eine oder andere Blick bekannt vorkommt, so liegt das an Alfred Sisley. Hier verbrachte der Maler, den van Gogh «den schüchternsten und sanftesten der Impressionisten» nannte, die letzten Lebensjahre. Und fand, was ihn zu seinen besten Bildern inspirierte: Die alte Brücke, die sich im glitzernden Wasser spiegelt, das Farbenspiel in den Blättern der Pappeln am Ufer oder das einfache Leben der Bauern und Schifferleute der Gegend. Sisley wie auch Gaugin, Monet, Renoir, Cézanne oder van Gogh sind die Zimmer im Hotel «Cheval Noir» gewidmet. Unter ihren traumhaften Bildern schläft man tief und fest.