
Frühlingszauber im hohen Norden
Dies ist die perfekte Schiffsreise für Menschen, die keine Kreuzfahrten mögen: Mit dem Postschiff Havila Polaris entdecken Sie die norwegische Küste. Ein unvergessliches Abenteuer, in dem die Natur die Hauptrolle spielt.
Text: Claudia Senn
Erstaunlich, an welche Extrembedingungen sich der Mensch gewöhnen kann, wenn er muss. Zum Beispiel in Kirkenes, Norwegen, etwa 400 Kilometer nördlich des Polarkreises. Alle Jahreszeiten dauern hier nur etwa sechs Wochen. Mit Ausnahme des Winters, der ist acht Monate lang. Dann kann es hier bis zu minus 50 Grad kalt werden. Während der Polarnacht von Ende November bis Mitte Januar geht die Sonne überhaupt nicht mehr auf. Ein Problem sei das nicht, sagt Greg, mein Guide, «dann gehen wir eben mit Stirnlampen auf die Loipe.» Doch auch er freut sich, dass jetzt, Mitte Mai, endlich Frühling in der Luft liegt. Gewärmt von einer milden Sonne, die nun rund um die Uhr scheint, gibt das Eis die Landschaft wieder frei.

Ohne die Postschiffe der Hurtigruten- und der Havila-Linie würde sich wohl kaum ein Tourist in dieses arktische Dorf verirren. Es gibt hier nicht viel mehr als ein Bataillon Soldaten, das die nur zehn Kilometer entfernte Grenze zu Russland sichert, ein ganzjährig geöffnetes Eishotel, viele, viele Schlittenhunde, die in der schneefreien Jahreszeit völlig aus der Form kommen – und jede Menge menschenleere Tundra und Taiga, in der sich während des kurzen arktischen Sommers Braunbären, Wölfe, Luchse und rund 250 Vogelarten tummeln. Nicht zu vergessen die Königskrabbe, ein Monster von Krustentier. Russische Forscher setzten die bis zu 1,8 Meter grossen Tiere einst in der Barentssee aus, um die Ernährungslage zu verbessern. Seither fressen sie alles auf, was ihnen vor die Scheren kommt, gern auch mal eine Artgenossin.
Es ist ein naturverbundenes und entschleunigtes Leben, das die Menschen hier führen. Versorgt werden Kirkenes und die anderen Dörfer an den von Fjorden zerklüfteten Ufern von den Schiffen der Küstenroute, die nicht nur die Post bringen, sondern auch frisches Gemüse, Baumaterial oder ein neues Schneemobil. Sie sind die Lebensader und der ÖV für die Einheimischen – und ein atemberaubendes Transportmittel für Touristen, die den ganz hohen Norden entdecken wollen.

Emissionsarm und schick
Die modernsten Schiffe sind jene der Havila-Reederei. Sie fahren nicht mit Diesel, sondern gleiten lautlos dahin, angetrieben von emissionsarmem Flüssiggas und den grössten Akkus der Welt. Zweimal 43 Tonnen wiegen diese Riesenbatterien, die die Flotte zu den umweltfreundlichsten Kreuzfahrtschiffen der Welt machen. Das Interieur ist ganz im Skandi-Chic gehalten. Es gibt künstliches Kaminfeuer und unfassbar bequeme Designersessel, in denen ältere Herren gern leise schnarchend ihr Mittagsschläfchen halten.
Wer will, steigt in den Outdoor-Jacuzzi auf Deck 8. Gleich nebenan ist auch die Sauna (wir sind schliesslich in Skandinavien!). Für Sportbegeisterte gäbe es eine Etage weiter unten sogar ein Gym. Doch das alles muss erst einmal warten, denn zu aufregend ist die Hauptattraktion auf diesem grossartigen Schiff: die Landschaft, die vor den Panoramafenstern vorbeigleitet, der Himmel, die Wolken, die Delfine, die das Schiff eine Weile lang eskortieren wie eine gut gelaunte Schutzpatrouille. Bald versinkt man in einer Art Guck-Trance. Alle Pflichten sind ausgesetzt.

Nur das Essen darf man auf keinen Fall verpassen, denn das wäre ein Jammer. Der Schrecken jedes Kreuzfahrtschiffs ist das Noro-Virus. Hat es jemand, haben es bald alle. Deshalb sorgt eine charmante, aber unerbittliche Blondine dafür, dass alle brav die Hände waschen, bevor sie zu Rentierschmortopf und Moltebeeren schreiten. Ein weiterer Fixpunkt ist das Briefing am frühen Abend: Wie wird das Wetter? Welche Highlights warten im nächsten Hafen? Auf der Insel Sørøya, an der wir morgen vorbeifahren, leben überraschenderweise Kamele, die mit dem arktischen Klima prima zurechtkommen. In Tromsø gibt es ein Mitternachtskonzert. Bei den Vesterålen kann man wahrscheinlich Wale sehen. Damit die Gäste mal wieder an die frische Luft kommen, wird an Deck samische Rentiersuppe serviert. Oder Stockfisch. «Und wenn Sie ihn nicht mögen, hat der Barmann sicher etwas, das Sie den Geschmack vergessen lässt», sagt unser Bordreiseleiter.

So ziehen die Tage dahin. Je südlicher wir kommen, desto grüner wird die Landschaft vor dem Fenster. Die Wolken sehen schon wieder aus wie ein Gemälde von William Turner. Und war das da eben die Atemfontäne eines Wals? Bald wünscht man sich, für immer in dieser sanft schaukelnden
Bubble bleiben zu dürfen. Im Mutterleib könnte es nicht schöner sein.