Es geht aufwärts! Sportklettern fördert die Muskelkraft, Koordinationund Beweglichkeit – und ist laut Experten ideal für ältere Menschen. Nelly Seiz (70) hat diese Vorzüge vor vier Jahren entdeckt.
Text: Roland Grüter
Ausgerechnet Klettern! Nelly Seiz hätte sich nie träumen lassen, dass sie sich freiwillig luftigen Höhen aussetzt. Denn seit der Jugend leidet sie unter Höhenangst und -schwindel. Vor vier Jahren aber schenkte ihr der Sohn zum Geburtstag eine Probestunde in einem Kletterzentrum. Seither steigt die pensionierte Buchhalterin regelmässig in den Klettergurt. Zwei Mal wöchentlich trifft sie sich mit zehn anderen Seniorinnen und Senioren in der 16 Meter hohen Halle des Kletterzentrums Gaswerk in Schlieren und misst sich an der Vertikalen. Die Aufstiege an den Wänden sind mit farbigen Griffen markiert, manche Routen sind schwieriger, andere einfach.
Elfengleich herunter schweben
Nelly Seiz hat den einfachsten gewählt. Konzentriert steigt sie höher und höher, nun bleibt sie stehen. Wie weiter? «Versuch den Griff rechts über deinem Kopf zu fassen», ruft ihr Bea Weilenmann zu, die unterhalb ihrer Freundin auf sicherem Boden steht und darum besorgt ist, dass ihrer Weggefährtin nichts passiert. Sie hält ein Seil in den Händen, dieses schützt die Kletterin vor einem Sturz. «Keine Chance – ich kann nicht mehr», ruft Nelly Seiz zurück. Sie wartet, bis ihre Sicherheitsgarantin bereitsteht. Dann lässt sie von der Wand ab, hängt sich ins Seil und schwebt elfengleich dem Boden entgegen. «Hast du gut gemacht», lobt Bea Weilenmann, «du wirst immer sicherer. Bravo!»
Sportklettern lässt Kinofans an den Actionfilm «Cliffhanger» denken, darin kämpfte 1993 Schauspieler Sylvester Stallone in schwindelnden Höhen ums Überleben. Andere assoziieren damit Spitzensportlerinnen wie Evelyne Binsack – oder die Trenddisziplin Bouldern, in dem Frauen und Männer nur durch Matten gesichert Felsblöcke oder Kletterwände hoch- und runterhangeln. Doch Sportklettern geht auch gemächlicher, kontrollierter, gesicherter. Daran knüpft das Seniorenklettern an, das seit ein paar Jahren im Angebot diverser Kletterhallen-Besitzer steht, so auch im Kletterzentrum Gaswerk Schlieren. Die Verantwortlichen führen seit sechs Jahren regelmässig Seniorenkurse durch, sie richten sich an Sportlerinnen und Sportler über 55. Manche davon treffen sich jeden Dienstag und Freitag in Schlieren zu freien Trainings. Nelly Seiz gehört mit dazu.
«Klettern ist die beste Sportdisziplin fürs Alter. Selbst 75-Jährige können damit anfangen», sagt Urs Wiget (75), ein erfahrener Mediziner und ebensolchen Bergsteiger. Er war stellvertretender Oberarzt der Rega und langjähriger Ausbildner der Schweizer Bergführer, nun setzt er sich dafür ein, dass die Vorteile dieser Disziplin besser bekannt werden. Er gibt sein medizinisches Know-how in Vorträgen und Kursen weiter.
Mehr Selbstwertgefühl
Der Arzt ist überzeugt: Klettern stärkt Körper und Geist – und ist auf ältere Menschen perfekt zugeschnitten. «Klettern beansprucht die unterschiedlichsten Muskelgruppen. Es stärkt den gesamten Körper, den Rücken, die Finger, die Arme und wirkt sich auch positiv auf unsere Sensomotorik, Beweglichkeit und Koordination aus, was insbesondere im Alter wichtig ist, um das Sturzrisiko zu mindern.» Auch das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl wird zwischen Himmel und Erde trainiert.«Der Sport fordert uns immer neue Lösungen ab. Er regt also auch unser Oberstübchen an, wirkt zudem kompetitiv», bekräftigt Urs Wiget. «Man will etwas erreichen, etwas überwinden – allein das tut gut.» Deshalb empfehlen Altersmediziner Klettern selbst Menschen mit allerlei Gebrechen, mit Osteoporose, Rückenproblemen, Arthritis, ja sogar solchen mit Arthrose. Denn Klettern dehnt die Gelenke, statt sie mit Hochdruck zu stauchen. Darüber wird die Krafteinwirkung auf mehrere Punkte verteilt, auf Hände und Füsse – und schont so Gelenke ebenfalls.
Das Kletterzentrum Gaswerk in Schlieren formierte die erste Seniorengruppe vor sechs Jahren. Die Gangart ist etwas gemütlicher – die Kurse werden in Randzeiten gelegt, in denen die Kletterhallen von Hobbysportlern nicht geflutet werden. «So kann ich ohne Druck und Hast mein Tempo an der Wand bestimmen», sagt Nelly Seiz. Sie lacht und verweist auf einen anderen, nicht minder wichtigen Vorteil des Seniorenkletterns: In der Halle ist der Sport garantiert wetterunabhängig. Sagts und weist mit ihrem Kopf zum Fenster. Draussen regnet es in Strömen. ❋
Hier können Sie das Klettern lernen
Das Kletterzentrum Gaswerk Schlieren führt im Herbst Seniorenkurse für Menschen über 55 durch. Preis für fünf Lektionen (je 2,5 Stunden: rund 300 Franken). Eine Schnupperkletter-Stunde kostet dort 59 Franken.
Jahresabonnemente der Kletterzentren kosten zwischen 630 und 1090 Franken – und die erforderliche Basisausrüstung (Klettergurt, Schuhe etc.) rund 300 Franken.
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