
«Kokain hat ihn uns genommen»
Marina Jungs Sohn Benedict war abhängig von Kokain. Seine Mutter weiss heute: Er konnte nichts dafür. Hier erzählt sie, wie sie mit der schwierigen Situation umging – damit andere Angehörige aus ihren Erfahrungen lernen können.
Interview: Claudia Senn
Marina Jung, was für ein Mensch war Ihr Sohn Benedict?
Er war sehr neugierig. Es gab kaum etwas, das ihn nicht interessierte. Bei Themen, die ihn fesselten, konnte er eine überbordende Begeisterung an den Tag legen. Zudem war er abenteuerlustig, hatte vor nichts Angst. Man könnte auch sagen: Er suchte den Kick. Einmal kam er von einem Montainbike-Trail zurück, voller Blut und Dreck, weil er mehrfach gestürzt war. Ich erschrak, als ich ihn so sah. Doch er sagte bloss: «Läck, isch das geil gsi!» Vielleicht war es diese Furchtlosigkeit, die ihm später zum Verhängnis wurde.
Hatte er berufliche Pläne?
Er studierte an der Pädagogischen Hochschule und wollte Primarlehrer werden. Das Studium fiel ihm leicht. Er bekam viele positive Rückmeldungen, denn neben seiner abenteuerlustigen Seite hatte er auch etwas sehr Einfühlsames. Er war beliebt, sah gut aus, war hilfsbereit, rhetorisch begabt, hatte gute Umgangsformen. Im Grunde genommen war er der Typ, den alle mögen. Auch mit seiner Freundin hatte er eine schöne Beziehung.
Hätten Sie gedacht, dass er suchtgefährdet sein könnte?
Die Vorstellung, dass das eigene Kind Drogen nimmt, ist wohl für alle Eltern ein Schreckensszenario. Als Benedict in die Pubertät kam, waren wir deshalb wachsam. Kokain hatten wir da allerdings nicht auf dem Radar, wir dachten eher an Alkohol oder Cannabis. Doch beides war nie ein Thema für ihn. Er rauchte nicht einmal. Als er nach der RS auch noch die Offiziersschule machte, dachten wir wirklich, auf der sicheren Seite zu sein.
Wann hat er zum ersten Mal Kokain genommen?
Mit 22 traf er in einer Bar auf der Toilette einen Mann, der gerade eine Linie zog. Benedict fragte ihn spontan, ob er ihm etwas abgeben würde. Aus Neugier. So fing es an. Wir haben lange nichts davon bemerkt. Denn wenn man abends ein, zwei Linien konsumiert, kann man am nächsten Tag problemlos funktionieren, zumindest am Anfang, wenn die Nebenwirkungen noch nicht so ausgeprägt sind.
Ist Ihnen wirklich nichts aufgefallen?
Rückblickend gab es schon Anzeichen – die wir aber erst im Nachhinein deuten konnten, seine Stimmungsschwankungen beispielsweise. Auffällig war auch, dass seine Nase dauernd lief. Er erklärte das mit einer Allergie und nahm Medikamente gegen Heuschnupfen. In Wirklichkeit war es das Kokain, das seine Schleimhäute reizte. Auch sein Verhalten veränderte sich. Blieben wir bei Familienessen normalerweise noch etwas vor den leeren Tellern sitzen, zog er sich nun schnell zurück. Wenn wir ihn darauf ansprachen, sagte er, es sei alles in Ordnung. Bis dann der Tag kam, an dem er uns gestand, Kokain zu konsumieren.
Das muss ein Schock für Sie gewesen sein.
Das zieht einem den Boden unter den Füssen weg, ja. Das eigene Kind nimmt harte Drogen! Das kann nicht sein. In meiner Panik versuchte ich sofort zu relativieren: So schlimm kann das nicht sein, er hört bestimmt bald wieder damit auf.
Wie haben Sie versucht, Benedict vom Drogenkonsum abzubringen?
Mein Mann und ich begannen, auf ihn einzureden. Es waren eher elterliche Vorträge als ein Dialog. Wir erklärten ihm, dass das Kokain, wenn er nicht damit aufhört, sein ganzes Leben zerstören würde: seine Liebesbeziehung, seine Freundschaften, seine Gesundheit, sein Studium, sein Geld – einfach alles. Wir halfen ihm, Adressen von Suchtberatungsstellen zu finden. Wir appellierten an seinen Willen und an seine Vernunft. Wir dachten, wenn er die Konsequenzen intellektuell verstehen würde, dann würde er aufhören. Rückblickend gesehen war das total naiv.
«Dass ich ein schwer krankes Kind zu Hause hatte, begriff ich erst, als es zu spät war.»
Wieso?
Weil eine Suchterkrankung eine andere Dynamik hat. Kokain ist diabolisch. Die Gier nach der Substanz wird schnell übermächtig. Es gibt kein Sättigungsgefühl. Mein Sohn hatte einen sehr starken Willen. Er wollte unbedingt aufhören. Doch gegen den Suchtdruck war er machtlos. Damals war mir zu wenig bewusst, dass Sucht eine Krankheit und keine Willensschwäche ist. Ich hatte ein schwer krankes Kind zu Hause und begriff das erst, als es zu spät war.
Machen Sie sich Vorwürfe?
Ich würde eher von Bedauern sprechen. Ich bedaure über alles, dass mir damals entscheidendes Fachwissen fehlte, um die Situation richtig einzuordnen und adäquat zu reagieren. Zudem war es sicher ungünstig, dass wir in Panik ausgebrochen sind. Dadurch fühlte sich unser Sohn schuldig – was seinen Konsum vermutlich zusätzlich förderte. Wir haben katastrophisiert, aufgeklärt, verurteilt, Vorwürfe gemacht, ihn bei jeder Begegnung kontrolliert. Er fühlte sich beobachtet und unter Druck gesetzt. Besser wäre gewesen, wir hätten ein echtes, ehrliches Interesse gezeigt an dem, was ihm widerfahren ist: Magst du erzählen, wie es zum Konsum gekommen ist? Wie fühlt sich Kokain an? Was bringt es dir? Ich habe mich zu wenig in seine Lebensrealität hineinversetzt.
Benedict war mehrfach in Suchtberatungen, Therapien und Entzugskliniken. Konnte man ihm dort nicht helfen?
Doch, es gab ja immer wieder abstinente Phasen. Bei jedem neuen Anlauf hofften wir, dass der Spuk vorbei sein möge. Aber bei Kokain gibt es keine schnelle Lösung. Es gibt auch keine Ersatzdrogen oder Medikamente, mit denen man den Substanzhunger lindern könnte. Abgesehen von psychotherapeutischen Ansätzen hat die Suchtmedizin Menschen mit einer Kokainabhängigkeit wenig zu bieten. Man kann höchstens Strategien erlernen, wie man mit dem Suchtdruck umgeht. Wir hatten zum Beispiel immer scharfe Chilis im Kühlschrank, auf denen Benedict herumkaute, sobald die Gier nach Kokain übermächtig wurde. Die Hoffnung war, dass dieser extrem starke Reiz ihn ablenken würde. Das hat aber leider nur manchmal geklappt. Im Verlauf der Zeit richtete sich sein ganzes Denken und Handeln auf den Konsum aus. Wir mussten einsehen, dass wir seine Sucht nicht kontrollieren konnten. Die Verantwortung für den Ausstieg liegt zu hundert Prozent bei der suchtkranken Person.
Wie haben Sie und Ihr Mann das ausgehalten?
Eine Suchterkrankung in der Familie mitzuerleben ist brutal. Aussenstehende können das kaum nachvollziehen. Bei den wichtigen Themen haben mein Mann und ich zum Glück immer am selben Strick gezogen. Manchmal gab es aber Situationen, in denen wir unnötig emotional reagierten. Wenn Ohnmacht, Verzweiflung und Hilflosigkeit vorherrschen, kommt man mit lösungsorientierten Ansätzen an seine Grenzen. In manchen Momenten wollte ich einfach nur weg, weil ich die Not und das Leiden nicht mehr ertragen konnte.
Wie offen sind Sie mit Benedicts Krankheit umgegangen?
Wir haben ein grosses Geheimnis darum gemacht. Immer wieder mussten wir Geschichten konstruieren, warum wir niemanden einladen und weshalb wir keine Einladung annehmen konnten. Das hat unsere Isolation und Hilflosigkeit noch verstärkt. Reden hätte uns sicher entlastet. Andererseits sind Suchterkrankungen in unserer Gesellschaft noch immer sehr stigmatisiert. Man muss sich schon genau überlegen, wem man davon erzählt.
«Auf Kokain wurde er überheblich, empathielos, kalt wie Eis.»
Wie hat sich Benedicts Persönlichkeit durch das Kokain verändert?
In abstinenten Phasen gab es auch schöne Momente. Dann kochte er für uns sein berühmtes Tomatenrisotto, wir sassen als Familie beisammen, und alles war gut. Doch auf Kokain wurde er überheblich, empathielos, kalt wie Eis. Ich erkannte ihn kaum wieder. Mit der Zeit kamen Paranoia und starke Depressionen mit Suizidgedanken dazu. Man sagt, am Anfang ist Kokain Vergnügen. Später wird daraus Vergnügen mit Konsequenzen. Und irgendwann sind da nur noch die Konsequenzen. Die waren furchtbar, einfach grauenhaft.
Am 6. November 2020 sagten Ihnen zwei Polizisten, dass Ihr Sohn tot sei. Können Sie
erzählen, was passiert ist?
Eigentlich dachten wir, er sei auf einem guten Weg. Er war abstinent und arbeitete in einem Seminarbetrieb im Ausland, um Abstand zur Schweizer Drogenszene zu gewinnen. Seine Arbeit machte ihm Freude. Doch er erzählte auch offen, dass ihn manchmal Verzweiflung überwältige und er grosse Angst vor dem nächsten Rückfall habe. Am 2. November schickte er uns eine WhatsApp-Nachricht, in der er uns einen guten Start in die Woche wünschte. Das war das Letzte, was wir von ihm hörten. Am nächsten Morgen nahm er den Zug nach Zürich und erlitt einen schweren Rückfall. Wir konnten keinen Kontakt mehr zu ihm aufnehmen, telefonierten alle Spitäler ab, gaben schliessslich eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf, die der Beamte erst nicht entgegennehmen wollte, weil er meinte, es sei normal, dass sich junge Menschen manchmal nicht melden würden. Am nächsten Morgen kamen die Polizisten und sagten, sie hätten ihn gefunden, tot. Benedict wurde 26 Jahre alt. Das Kokain hat ihn uns genommen.
Sie haben ein Buch über die Kokainsucht Ihres Sohnes geschrieben. Hat Ihnen das geholfen, alles zu ordnen und zu begreifen?
Nach Benedicts Tod fing ich an, alles zu Kokain und Sucht zu lesen: Erfahrungsberichte, Fachbücher, Studien, wissenschaftliche Artikel. Erst da verstand ich, wie naiv und unvorbereitet wir reagiert hatten. Als ich beschloss, unser Erfahrungswissen und das gesammelte Fachwissen schriftlich festzuhalten, realisierte ich, dass das für andere Angehörige hilfreich sein könnte. So ist die Idee mit dem Buch entstanden. Nun, wo es erschienen ist, finden sich andere Betroffene darin wieder und können in vergleichbaren Situationen vielleicht besser reagieren als wir damals. Jeden Tag bekomme ich Rückmeldungen: von betroffenen Familien, von Fachleuten, ja, sogar von Kokainkonsumierenden selbst. Das macht Benedicts Tod nicht weniger sinnlos. Aber seine Geschichte ist für andere Menschen wichtig.
Zur Person
Marina Jung, 66, hat Betriebsökonomie studiert und eine Weiterbildung in Psychosozialem Management absolviert. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt sie sich mit der sozialen und beruflichen Integration von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie lebt in Zug.
Über die Kokainsucht ihres Sohnes hat sie einen mit viel Fachwissen angereicherten Bestseller geschrieben: «Kokainjahre», Verlag Rüffer & Rub, ca. CHF 30.–
Instagram: @kokainjahre.
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