Die Krankenkasse Swica erlaubt es ihren Telemedizin-Ärzten seit 2019, für 15 Krankheiten und Beschwerden Zeugnisse, Rezepte oder auch etwa Physiotherapie-Verordnungen zu verschreiben.
DAFÜR
Heinz Locher Gesundheitsökonom, Unternehmensberater und Experte für die Reform von Gesundheitssystemen
In jedem Gesundheitssystem sollten zwei Fehler vermieden werden. Zum einen, dass Personen, die der professionellen Hilfe durch Angehörige von Gesundheitsberufen bedürfen, keinen Zugang erhalten oder in Anspruch nehmen. Zum andern, dass Personen unnötigerweise professionelle Hilfe durch Angehörige von Gesundheitsberufen in Anspruch nehmen. Die erstgenannte Fehlerart kann zu unter Umständen fatalen gesundheitlichen Problemen führen, die zweite Fehlerart zu vermeidbaren Kosten. Beides ist unerwünscht.
Sicherzustellen, dass in möglichst vielen Fällen der «Pfad der Tugend» zwischen beiden Risiken begangen wird, stellt demzufolge eine grosse Herausforderung dar. Diese wird umso grösser, als immer weniger Personen mit den altbewährten «Hausmitteln» vertraut sind und sich deshalb beim Auftreten erster echter oder vermeintlicher Krankheitssymptome unsicher fühlen. Die «Versuchung», insbesondere zu Randzeiten oder an Wochenenden, wenn alle Arztpraxen geschlossen sind, gleich die Dienste einer der immer zahlreicher werdenden Notfallzentren in Anspruch zu nehmen, ist demzufolge gross.
Und nun tritt der durch den Krankenversicherer Swica getragene Telemedizindienst «Santé24» als neuer Anbieter auf den Plan – und fast gleichzeitig auch die vielen «Bedenkenträger», die so charakteristisch für unser Gesundheitssystem sind. Ihre Bedenken – oder sind es eher Unterstellungen? – sind vielfältig: Fehlerrisiko, Missbrauchsrisiko, Gefahr der verdeckten Rationierung durch Swica. Warum nicht einfach Erfahrungen sammeln und daraus lernen – wie dies in allen andern Lebensbereichen bei Innovationen üblich ist? ❋
DAGEGEN
Christoph Hollenstein FMH Allgemeine Innere Medizin, Vize-Präsident der Vereinigung der Hausärztinnen und Hausärzte beider Basel, Delegierter Hausärzte Schweiz
Ein Zeugnis einzig auf der Plausibilitätsebene auszustellen, unterhöhlt das Rechtsverständnis und kommt einer Farce gleich. Konkret: Wenn der Arbeitnehmer von krampfartigen Bauchschmerzen und gehabtem Fieber berichtet, den ganzen Tag hindurch kaltschweissig ist und weder isst noch trinkt, erachtet es jeder Vorgesetzte als plausibel genug, den Mitarbeiter als krank und arbeitsunfähig anzusehen. Hier braucht es kein ärztliches Zeugnis. Falls der Versicherer die Situation nicht gleich einschätzt und seine Leistungspflicht nicht bestätigt, soll der Hausarzt zugeschaltet werden. Diesem obliegt es dann aber, für zusätzlichen Erkenntnisgewinn den Patienten fachärztlich zu befragen und zu untersuchen.
Ein Zeugnis beweist das Vorhandensein eines bestimmten Gegen-bzw. Zustandes bzw. eines Sachverhalts. Ein solcher Beweis kann nur geführt werden, wenn er mit den eigenen Sinnen wahrnehmbar ist und mit dem persönlich Erfahrenen verglichen werden kann. Scheint ein Sachverhalt lediglich wahrscheinlich oder das Vorhandensein eines Gegen-bzw. Zustandes nur gut möglich zu sein, befinden wir uns auf der Ebene der Plausibilität und nicht mehr des Beweises.
Ähnliches gilt für Verordnungen und Rezepte. Für sie braucht es klare Indikationen sowie die Übersicht über mögliche Interaktionen mit anderen Massnahmen, unerwünschten Wirkungen sowie Behandlungsalternativen. Wenn ein Versicherer bei «Rückenschmerzen ohne Alarmsymptome» standardmässig eine Serie Physiotherapie und sechsstündlich Paracetamol übernehmen will, sei ihm dies unbenommen; die Verantwortung dafür soll er dann aber auch selber tragen. ❋
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