Die Diplompsychologin Bettina Ugolini leitet die Beratungsstelle Leben
im Alter. Die letzte Phase in der Eltern-Kind-Beziehung ist immer wieder ein Thema. Denn sie ist für beide Seiten eine Herausforderung.
Filiale und parentale Reife sind Ihre Themen. Wie kamen Sie dazu?
In meinen Beratungen ist immer wieder die Beziehung zwischen erwachsenen Kindern und ihren älter werdenden Eltern ein grosses Thema. Dabei beschäftigt mich der filiale Reifeteil mehr: wenn Söhne und Töchter bewusst die sich verändernde Beziehung zu den Eltern wahrnehmen und lernen müssen, in diesem neuen Spannungsfeld eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Autonomie und Verbundenheit zu finden. Das gelingt ihnen, wenn sie mit ihren Eltern auf Augenhöhe kommunizieren. Das wieder um bedingt einen Reifeprozess.
Sie beraten auch ältere Menschen. Welche Probleme haben diese?
Sie leiden darunter, dass sie von ihren Kindern bevormundet werden. Dass sie von ihnen hören, wie sie alt zu werden haben. Dass die Kinder ihnen sagen, was gut für sie ist, und mit ihnen reden, als wären sie selber Kinder. In diesem Fall hat ein ungesunder Rollentausch stattgefunden. Es gilt dann, einen Schritt zurückzutreten und die Beziehung noch einmal zu überdenken. Eine Tochter darf nicht zur Mutter ihrer Mutter werden – ein solch umgekehrtes Verhältnis wird beiden nicht gerecht.
Auch von den alten Eltern wird noch einmal ein Reifeprozess erwartet. Können Sie ihn beschreiben?
Bei den alten Eltern ist das Ziel die sogenannte parentale Reife. Dazu gehört ein guter Umgang mit den immer enger werdenden Grenzen, mit der eigenen Bedürftigkeit und Gebrechlichkeit. Alte Eltern müssen lernen, Verantwortung abzugeben und die Sorge der Kinder anzunehmen. Das ist eine grosse Herausforderung, vor allem, wenn man immer alles selber gemacht hat.
Bettina Ugolini, Dr. phil.
ist Pflegefachfrau und Diplompsychologin und leitet am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich die psychologische Beratungsstelle LiA, Leben im Alter.Adresse: Universität Zürich, Zentrum für Gerontologie, Pestalozzistrasse 24, 8032 Zürich, Telefon 044 635 34 20, Internet www.zfg.uzh.ch, Mail bettina.ugolini@zfg.ugh.ch
Was passiert, wenn dieser Reifeprozess nicht gelingt?
Wenn die Eltern parental reif werden und das Kind in seiner Kinderrolle verharrt, tragen die Eltern oft weiterhin die Verantwortung – für das Kind und für sich selber. Das kann sehr anstrengend sein. Einfacher ist es, wenn sich die Eltern diesem Reifeprozess verweigern: Ein filial reifes Kind kann auch dieses Verhalten seiner Eltern richtig einordnen und sich entsprechend abgrenzen.
Führt dieses Abgrenzen nicht automatisch zu Schuldgefühlen?
Meist handelt es sich dabei um unangemessene Schuldgefühle: Man fühlt sich schuldig, ohne schuldig zu sein. In meiner ganzen Beratertätigkeit habe ich noch nie erlebt, dass die Kinder schuldig sind, wenn ein Elternteil ins Heim ziehen muss. Nein – daran ist die Krankheit schuld, die nicht rollstuhlgängige Wohnung, die Pflegebedürftigkeit, die zunehmende Gebrechlichkeit. Filial reife Kinder wissen um diese unangemessenen Schuldgefühle und können damit umgehen.
Aber unsere Eltern haben so viel für uns getan …
… und wir wollen ihnen etwas zurückgeben. Heisst das, dass uns die Eltern am Anfang des Lebens einen Kredit gegeben haben, der irgendwann zurückzuzahlen ist? Wer sagt, wie hoch dieser Kredit war? Wann er abbezahlt ist? Kinder ins Leben zu begleiten, ist etwas anderes, als mit den alten Eltern das letzte Wegstück zu gehen. Erwachsene Kindern bestimmen selber, wie viel Fürsorge und Zeit sie den Eltern geben können und wollen – schuldig sind sie ihnen nichts.
Haben Sie selber die filiale Reife erreicht?
Filiale Reife ist nicht etwas, das man erlangt und nachher für alle Zeiten besitzt. Es ist immer wieder ein Reflexionsprozess. Aber ich würde sagen: Ich habe mit meinen Eltern eine Kommunikation auf Augenhöhe. Es ist mir möglich, ihnen auch nein zu sagen. Und das, was ich für sie mache, geschieht nicht aus einem Pflichtgefühl heraus, sondern weil ich es wirklich will.
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