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«Die Älteren sind den Jüngeren nicht voraus»

Der Gerontologe François Höpflinger weiss, warum wir dringend von den Jungen lernen sollten. Weshalb Alter ein so mieses Image hat. Welches die Ingredienzen eines gelungenen Lebensabends sind. Und dass früher bei uns garantiert nicht alles besser war, sondern um einiges schlimmer.

Interview: Claudia Senn; Foto: Bernard van Dierendonck

François Höpflinger, versetzen wir uns in das Jahr 1923 zurück, als die Zeitlupe gegründet wurde. Welches Alter konnten die Leute damals erreichen?
Heute werden bei uns fast achtzig Prozent aller Menschen 80 Jahre alt. 1923 waren es nur etwa zehn Prozent. Wer 50 oder 60 wurde, durfte sich glücklich schätzen. Auf alten Fotos sieht man, dass die Leute in diesem Alter bereits aussahen wie heutige 80-Jährige.

Was für ein Leben führten ältere Menschen damals? Hatte man überhaupt die finanziellen Mittel, um sich zur Ruhe zu setzen?
Nein, die Schweiz war in den 1920er-Jahren ein relativ armes Land. Wer nicht der Oberschicht angehörte, arbeitete meist bis zum Tod, auch die Frauen. Die Arbeitskraft einer Frau für den Haushalt zu verschwenden, konnten sich nur die wenigsten leisten. Zwölf-Stunden-Schichten in der Fabrik waren an der Tagesordnung. Erst in den 1960er-Jahren setzte sich das Konzept des Ruhestands für eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer durch.

Auch Pro Senectute engagierte sich seit den 1920er-Jahren für eine Altersversicherung, doch erst 1948 wurde die erste AHV-Rente ausbezahlt. Wie kamen die Leute davor über die Runden?
Nur wenige erreichten überhaupt ein hohes Alter. Um 1900 war die Hälfte der Grosseltern bei der Geburt eines Enkels bereits verstorben. Für höhere Angestellte gab es die Pfrundhäuser, eine Art Stiftungen, von denen sie eine Rente beziehen konnten, sofern sie zuvor rechtzeitig eingezahlt hatten. Viele litten jedoch unter bitterer Armut und waren abhängig von der Fürsorge, die es schon seit dem 18. Jahrhundert gab. Eigentliche Alterseinrichtungen existierten noch nicht. Die bedürftigen Alten wurden zusammen mit Alkoholikern und Kriminellen in Heime gesperrt.

Das klingt eher nach Gefängnis als nach geruhsamem Lebensabend.
Tatsächlich waren die Regeln in den Heimen streng. Es gab Arbeitspflicht und Alkoholverbot. Die Leute schliefen zu dritt oder zu viert in einer Kammer. Die Heime waren eine Art Zwangseinrichtungen, die oft ausserhalb der Dörfer lagen. Die meisten betrieben Landwirtschaft zur Selbstversorgung.

Welche Alterskrankheiten waren damals häufig?
Chronische Alterserkrankungen wie Diabetes oder Demenz kamen viel seltener vor, weil die Menschen dafür schlicht nicht alt genug wurden. Dafür litten sie häufig unter einem Jodmangel-Kropf, an Osteoporose aufgrund von Mangelernährung und an Rückenproblemen. Nach 70 hatte kaum noch jemand seine eigenen Zähne im Mund. Das hing jedoch auch damit zusammen, dass man jungen Frauen oft alle Zähne zog, weil man ein Gebiss schöner und praktischer fand. In den 1920er-Jahren war das Alter etwas, das man als Schicksal hinnahm. Aktiv die Alterungserscheinungen hinauszuzögern, war damals noch kein Thema.

Mit wie vielen Jahren gilt man heute als alt?
Aus Sicht der Jungen mit 66. Aus Sicht der Alten mit 80 – wenn überhaupt. Während der Corona-Pandemie fühlten sich viele auf den Schlips getreten, weil das BAG alle Menschen ab 65 zur Risikogruppe zählte. Am allerbesten können Junge die Alten ja beleidigen, wenn sie ihnen einen Platz im Bus oder Tram anbieten.

«Das Zusammenleben der Generationen war früher meist eine Zwangsgemeinschaft.»

«Die junge Generation hat auch heute noch Respekt vor dem Alter», hat der amerikanische Schriftsteller Truman Capote einmal gesagt, «allerdings nur beim Wein, beim Whiskey und bei den Möbeln.» Genossen ältere Menschen früher ein höheres Ansehen?
Nur wenn sie Macht besassen oder Grundbesitz. Ausschlaggebend waren Status und Vermögen, in Einzelfällen vielleicht auch noch Handwerkskünste oder musische Talente. Eine Erbtante bekam also immer Respekt. Frauen ohne Vermögen blieben unbeachtet.

Aber die Söhne und Töchter kümmerten sich doch besser um ihre alten Eltern, heisst es immer.
Auch das ist ein Mythos. Das Zusammenleben der Generationen war früher vielmehr eine Zwangsgemeinschaft, da die Jungen nicht von zu Hause ausziehen konnten. Heute sind die Beziehungen zwischen Jung und Alt wesentlich entspannter, weil die Älteren eher mit der Zeit gehen und deshalb die Beziehung zur nachfolgenden Generation nicht verlieren.

Warum hat das Alter ein so mieses Image?
Weil es mit körperlichem Zerfall und der Nähe zum Tod zu tun hat. Dazu findet man schon im Alten Testament negative Beschreibungen. Während der Renaissance verstärkte sich das noch, weil man den Jugendkult der Griechen übernahm. Die Jugend wurde als fortschrittlich, dynamisch, positiv wahrgenommen. Die einzigen Skulpturen von alten Menschen, die es bei den Griechen gab, waren jene von Philosophen.

Die alten Griechen sind also schuld?
Nicht nur. Im europäischen Raum wurde die Stellung von alten Menschen auch durch das Christentum geschwächt. Der Einfluss der Kirche löste die alten Clan- und Sippenstrukturen auf. Das führte zum Beispiel dazu, dass junge Leute in Zürich schon zu Zwinglis Zeiten heiraten durften, auch wenn ihre Eltern dagegen waren.

Haben ältere Menschen in Ländern, wo solche Clan- und Sippenstrukturen noch intakt sind, eine bessere Position? 
Ja. Wenn in Burkina Faso zum Beispiel ein 50-jähriger Sohn seinen 80-jährigen Vater zu Hause aufnimmt, dann wird der Vater automatisch zum Haushaltsvorstand. In Afghanistan oder Indien läuft es ähnlich. Die Väter stehen über den Söhnen, die Mütter oder Schwiegermütter über den Töchtern und Schwiegertöchtern. Doch diese Gesellschaften haben gravierende Nachteile. Länder mit ausgeprägten Clan- und Sippenstrukturen entwickeln sich wirtschaftlich fast immer schlecht. Und das hohe Ansehen der Alten geht meistens zulasten von jungen Frauen.

«Im Römischen Reich war es gestattet, seine demenzkranken Eltern umzubringen.»

Was können Sie uns sonst noch über den Umgang mit älteren Menschen in anderen Kulturen erzählen?
In Japan geniessen die Alten eigentlich ein hohes Ansehen. Aber nur, solange sie geistig fit sind. Wenn sie dement wurden, hat man sie früher irgendwo auf einem abgelegenen Berg ausgesetzt.

Man liess sie einfach im Stich?
Ja, die Schwächsten konnten nicht mit Empathie rechnen. Bei einigen Urvölkern setzte man die Alten auf einen Baum und schüttelte ihn. Wer noch die Kraft hatte, sich festzuhalten, durfte weiterleben. Die anderen hatten eben Pech gehabt. Auch im Römischen Reich ging es sehr unzimperlich zu und her. Dort war es offiziell gestattet, seine demenzkranken Eltern umzubringen. Umgekehrt durften auch die Eltern ihre Kinder töten, wenn sie sich nicht erwartungsgemäss verhielten.

Und trotzdem möchten manche Leute glauben, dass früher alles besser war.
Mag sein, dass vereinzelte Dinge tatsächlich besser waren, doch der Umgang mit alten Menschen gehörte ganz bestimmt nicht dazu.

© Bernard van Dierendonck

Welchen Werbeslogan würden Sie sich für das Alter ausdenken?
Schwierig. Das wäre ein Kampf gegen Windmühlen. Man kann das Bild des Alters nicht mit Werbung verbessern. Seniorenmarketing basiert auf dem Prinzip, dass man die Leute auf keinen Fall als Senioren anspricht. Die Werbung konzentriert sich eher darauf, was man im Alter noch alles machen kann: eine E-Bike-Tour dem Rhein entlang bis nach Amsterdam, auf dem Jakobsweg pilgern, topmodisch gekleidet sein, ja, sogar rappen. Im Grunde genommen geht es der Werbung also darum, die Alten zu verjüngen, statt das Alter zu akzeptieren.

Stimmt das Bonmot, dass Altwerden nichts für Feiglinge ist?
Nein. Das Alter ist kein Kampf, sondern ein allmählicher Prozess. Auch Feiglinge werden alt – und merken es vielleicht erst einmal gar nicht. Viele suchen sich eine Position, aus der heraus sie sich noch nicht als alt und fragil wahrnehmen müssen. Einige sagen zum Beispiel: Ich gehe jetzt ins Pflegeheim, obwohl ich noch fit bin. Denn dort kann ich den wirklich Alten helfen.

Schwarze soll man heute People of Colour nennen, Indianer heissen jetzt Indigene. Welches ist der politisch korrekte Ausdruck für alte Menschen?
Senioren ist noch der harmloseste Begriff. Betagte oder Greise geht gar nicht mehr. Ältere – da fühlen sich die über 90-Jährigen nicht mehr angesprochen. Alte – da sind die jungen Senioren beleidigt. Unsere Begriffe hinken der Realität hinterher. Vielleicht sollten wir neue erfinden? Wie wärs mit «die Langlebigen»? Oder «die Ex-Jugendlichen»? Ach, das funktioniert doch auch nicht.

Gab es in Ihrem Leben einen besonderen Moment, in dem Sie schmerzhaft erkennen mussten: Jetzt bin ich alt? 
Eine Studentin sagte mir bei der Abschlussarbeit, schon ihre Mutter habe bei mir studiert. Da musste ich leer schlucken. Ich merke mein Alter auch daran, dass ich öfter Themen von früher anspreche und Verluste wahrnehme: «Weisst du noch? Da war doch früher mal eine Bäckerei.» Als grosse Zäsur empfinden viele, wenn sie den Führerschein abgeben müssen. Insbesondere für Männer ist das ein zentrales Thema.

«Die Art und Weise, wie wir altern, wird nur zu 30 Prozent von den Genen bestimmt.»

Welches sind die Ingredienzen eines gelungenen Alters?
Ein starkes, gutes Kontaktnetz. Sinnvolles Engagement. Schmerzfreiheit. Selbst Demenzkranke können bei guter Pflege und Betreuung ein hohes Wohlbefinden aufweisen. Angehörige ertragen es oft schlecht, wenn alte Menschen sich zurückziehen und einfach dasitzen, dabei kann es für die Person selbst ganz in Ordnung sein. Ein kleines Nickerchen, wieder aufwachen, sich an etwas erinnern, ein bisschen sinnieren.

Welches sind die Aufgaben des Alters?
Wir sollten die Gestaltungsmöglichkeiten, die wir heute haben, möglichst lange nutzen. Früher wäre jemand nach einer Hüftfraktur an den Rollstuhl gefesselt gewesen. Heute kann er nach der Rehabilitation bei einer Pro-Senectute-Wandergruppe mitmachen. Ernährung, Gedächtnistraining, Sport und Bewegung werden immer wichtiger, weil die Art und Weise, wie wir altern, nur zu 30 Prozent von den Genen bestimmt wird. 70 Prozent können wir selbst mitprägen.

Muss man als alter Mensch noch jeden Hype mitmachen?
Jeden Hype nicht. Doch wer offen und neugierig bleibt und sich neuen Entwicklungen nicht verweigert, hat eine bessere Lebensqualität, das belegen Studien. Die Technik ist ein Freund des Alters. Wer blind wird, kann auf Hörbücher umstellen. Bei Computer und Handy lassen sich Schriftgrösse und Helligkeit den eigenen Bedürfnissen anpassen. Es gibt Kochherde, die Alarm schlagen, wenn man vergisst, sie abzustellen. Das alles kann im Alter sehr nützlich sein.

Was können die Jungen von den Alten lernen?
Gelassenheit vielleicht. Viel wichtiger ist heute jedoch, dass die Alten bereit sind, von den Jungen zu lernen. Es stimmt nicht, dass die Älteren den Jüngeren voraus sind. Einige 25-Jährige haben mehr Lebenserfahrung als 80-Jährige, bei denen immer alles rundlief. Während der Corona- Pandemie hat man gemerkt, dass ein Teil der Babyboomer mit der Situation überfordert war und sich kaum anpassen konnte. Diese Leute hatten bisher keine Krisenerfahrung gemacht und wussten nicht, wie man mit Schwierigkeiten umgeht.

Prof. Dr. François Höpflinger schaut mit einer Lupe ein Buch an.
© Bernard van Dierendonck

Was können die Alten von den Jungen lernen?
Sie können sich von ihnen in neue Technologien wie Twint einführen lassen. Sich mit den Enkeln gemeinsam für die Klimabewegung engagieren. Ihren Rat bei Computerproblemen einholen. Aktive Grosselternschaft ist ein sozialer Jungbrunnen, das ist wissenschaftlich belegt.

Welche Herausforderungen sollte die Politik angehen, um den Seniorinnen und Senioren ein gutes Leben zu ermöglichen?
Sie muss sich für die Erhöhung der Lebensarbeitszeit einsetzen. Wer möchte, sollte auch nach 65 weiterarbeiten können, gegebenenfalls mit Teilrentenmodellen. Ohne ein vermehrtes Engagement der Älteren wird unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Ebenso wichtig ist die Bildungspolitik. Auch bei 50-, 60-, 70-Jährigen sollte der Staat noch in die Weiterbildung investieren, denn es gibt Hinweise darauf, dass das Demenzrisiko sinkt, je mehr Bildung die Leute genossen haben. Egal, ob an Seniorenuniversitäten, in Kursen, Wander- oder Kulturgruppen: Wer Neues lernt, bleibt länger geistig fit.

Warum gibt es nicht längst eine politische Alters-Partei, die sich für die Anliegen der Seniorinnen und Senioren einsetzt?
Es gab europaweit etwa zwanzig Versuche, eine solche Partei zu gründen, doch sie sind alle gescheitert, weil sich die Mitglieder zerstritten haben. Rentnerinnen und Rentner bilden weder sozial noch politisch eine Einheit, das geht von ganz links bis ganz rechts. Sie sind vielleicht sogar noch heterogener als die Jugend.

Wie alt wird ein Kind, das heute zur Welt kommt?
Schwer zu sagen. Sicher 90, vielleicht sogar 100 – vorausgesetzt, es kommt nicht zu gravierenden gesellschaftlichen Umbrüchen. Bremsen könnten diese Entwicklung auch Antibiotikaresistenzen oder der Klimawandel mit vermehrten Hitze- und Kältewellen.

Wie wird dieses Kind im Alter leben? Sind die grossen Geiseln der Menschheit wie Alzheimer oder Krebs bis dahin besiegt?
Ich bin kein Orakel, doch in der Medizin stehen tatsächlich positive Entwicklungen bevor. Die meisten Demenzerkrankungen wird man bis dahin wohl behandeln können. Viele andere Krankheiten könnten sich mit Gentherapie vielleicht sogar verhindern lassen. Auch künstliche Intelligenz kann uns unterstützen, zum Beispiel mit Vorwarnsystemen für epileptische Anfälle, sodass jemand im Auto noch rechtzeitig anhalten kann. Automatisierte Arbeitsprozesse werden die Menschen entlasten. Wenn es gut läuft, könnten wir sogar unsere Arbeitszeit reduzieren. Wind- und Solarenergie werden uns hoffentlich ohne schädliche Auswirkungen auf den Planeten mit Strom versorgen.

Sind Altersheime ein Auslaufmodell?
Ja. Die meisten Menschen möchten mit guter, sicherer Betreuung so lange wie möglich zu Hause wohnen. Weil es mehr Leute gibt, die sehr alt werden und weil die meisten am Lebensende gepflegt werden müssen, brauchen wir jedoch einen Ausbau der Pflegeheime. Die Einrichtungen sind immer besser auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner zugeschnitten. Es gibt bereits kultursensi- bel geführte Pflegewohngruppen für Einwanderer aus Italien oder Spanien. Angedacht sind auch Angebote für schwule Männer. Vielleicht wird es bald sogar Pflegewohngruppen für Vegetarier und Veganer geben. Für Demenzkranke baut man nun immer häufiger Gärten mit Wasserspielen, in denen sie ihren Bewegungsdrang ausleben können. Wo es blüht und duftet, aber nicht zu viele Wespen gibt und auch keine Kakteen, an denen sie sich stechen könnten.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Ist es eigentlich leichter, alt zu werden, wenn man, so wie Sie, ein Experte dafür ist?
Leider nein. Interessanterweise scheint sich Fachwissen auf das eigene Leben überraschend wenig auszuwirken. Sonst gäbe es ja auch keine depressiven Psychiater und geschiedenen Paartherapeutinnen. Ich habe also dieselben Probleme damit, alt zu werden, wie alle anderen auch. 

Das Leben dem Alter gewidmet

François Höpflinger (75) ist emeritierter Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich. Viele Jahr- zehnte lang forschte er zu Alters- und Generationenfragen. Seit 2014 ist er Mitglied der akademischen Leitung des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich. Höpflinger ist verheiratet, hat zwei Kinder, vier Enkelkinder und zwei kapriziöse Katzen. Er lebt in der Nähe von Zürich.

Beitrag vom 06.03.2023