© thespecials.com

«Ghosttown» von The Specials Songs und ihre Geschichten

Als The Specials vor vierzig Jahren mit ihren Ska- und Reggae-Hits die britische Popszene aufmischten, war das Land politisch tief in der Krise. Mit dem Song «Ghost Town» vertonte die Band im Jahr 1981 den wirtschaftlichen Niedergang Grossbritanniens.

In den späten 1950er Jahre, als sich Jamaika gerade auf dem Weg in die Unabhängigkeit befand, schwappte aus Amerika eine musikalische Welle in Form von Rhythm’n’Blues, Jazz und Gospel in die jamaikanischen Dancehalls. Fortan verbanden sich die jamaikanischen Rhythmen mit den neuen Musikstilen und der Ska war geboren. Besondere Merkmale waren der «hüpfende» Rhythmus, der sogenannte Off-Beat (= nicht auf dem Schlag) und die Instrumentierung (Bläser, Hammond-Orgel). Der Ska hielt sich in Jamaika jedoch nicht sehr lange.

Einer der Gründe wurde der enormen Hitzewelle im 1966 zugeschrieben. Den Leuten fehlte die Energie für den schnellen und anstrengenden Ska-Tanz. Das Tempo wurde gedrosselt, die Bläser traten in den Hintergrund oder verschwanden ganz. Als anderer Grund wird der Wunsch nach musikalischer Weiterentwicklung genannt. Es entstand der Rocksteady, aus welchem sich wiederum der Reggae entwickelte.

Völlig neue Musikform

Dank der grossen Einwanderungswellen aus den ehemaligen britischen Kolonien in der Karibik, waren Ska, Reggae, Calypso und Rocksteady seit den 1960ern stets in der britischen Musiklandschaft präsent. In den späten 1970ern entstand infolge der britischen Punkrevolution eine völlig neue Musikform. Sie vermischte die rebellische Haltung und die wutgeladene Energie des Punk mit Ska und Reggae. Und sie wurde von weissen als auch von schwarzen Jugendlichen gehört und gespielt. 

Anstatt ihre Musik von einer grossen Plattenfirma produzieren zu lassen, gründete der Specials-Keyboarder Jerry Dammers das kleine Label 2 Tone. Markenzeichen war das schwarz-weisse Schachbrettmuster, das die anti-rassistische Haltung der unter Vertrag stehenden Bands symbolisierte. Gleich mit der ersten Single «Gangsters» landeten The Specials 1979 einen Hit. Sieben weitere schafften es unter die Top Ten.

Am 4. Mai 1979 übernahm mit Margaret Thatcher zum ersten Mal in der Geschichte Grossbritanniens eine Frau das Amt des Premierministers. Sie stand für einen harten konservativen und wirtschaftsfreundlichen Kurs: Sie wollte keinen Sozialstaat, hasste die Gewerkschaften und attackierte Migranten. Im Verlauf ihrer Regierungszeit privatisierte sie so gut wie alle Staatsbetriebe – von den Schiffswerften und Stahlwerken über die Kohlegruben und Flughäfen bis zur lokalen Trinkwasserversorgung und dem öffentlichen Nahverkehr.

© thespecials.com

Nach nicht einmal zwei Jahren im Amt war die Thatcher-Regierung eine der Unbeliebtesten in der britischen Geschichte. Die Wirtschaftskrise traf die Metropolen ins Herz. Die ehemals florierenden Handelsstädte London, Glasgow, Liverpool und Manchester schrumpfen: leer stehende Lagerhäuser, verwahrloste Docks, verkommenen Eisenbahngelände, vernagelte Läden und unbewohnte Häuser.

Arbeitslosigkeit breitete sich im Land aus, Millionen von Menschen waren von finanzieller Unterstützung durch den Staat abhängig, und immer häufiger kam es zu Unruhen und Protestaktionen.

1981 verarbeiteten The Specials diese Eindrücke in «Ghost Town» musikalisch. Gemeint ist nicht irgendeine verlassene Westernstadt, sondern Coventry, die Heimatstadt der Band – früher auch ein blühender Industrieort, mit dem es immer mehr bergab ging.

Heulende Sirenen und ein schummriger Orgelsound eröffnen den Song. Die Querflöte übernimmt das Leitmotiv. Bläser krachen dazwischen. Eine melancholische und beklemmende Grundstimmung macht sich breit. Manches erinnert an Filmmusik und die Varité-Tradition.

This town is coming like a ghost town
All the clubs have been closed down
This place is coming like a ghost town
Bands won’t play no more
Too much fighting on the dance floor

Diese Stadt wird zu einer Geisterstadt
Alle Clubs sind geschlossen worden
Dieser Ort wird zu einer Geisterstadt
Bands werden nicht mehr spielen
Zu viele Kämpfe auf der Tanzfläche.

Do you remember the good old days before the ghost town?
We danced and sang and the music played in natty-boom town

Erinnerst du dich an die guten, alten Zeiten vor der Geisterstadt?
Wir tanzten und sangen, während die Musik in jeder rasant wachsenden Stadt spielte

This town is coming like a ghost town
Why must the youth fight against itself?
Government leaving the youth on the shelf
This place is coming like a ghost town
No job to be found in this country


Diese Stadt wird zu einer Geisterstadt
Wieso muss die Jugend gegeneinander kämpfen?
Die Regierung lässt die Jugend links liegen
Dieser Ort wird zu einer Geisterstadt
Keine Arbeit ist in diesem Lande zu finden

Can’t go on no more
The people getting angry


So kann es nicht mehr weitergehen
Die Menschen werden wütend

Gegen die «Eiserne Lady»

Vierzehn Zeilen reichten den Specials, um einer der eindrücklichsten sozialkritischen Kommentare der Popgeschichte zu verfassen. Auch wenn der Text Thatcher mit keinem Wort erwähnt, wurde das Lied zum Protestsong gegen die «Eiserne Lady». Es entwickelte politische Sprengkraft, nicht weil der Text besonders radikal ist, sondern weil er treffend die Lebensrealität von Millionen Jugendlichen dokumentierte.

Drei Wochen nach Veröffentlichung des Songs begann das, was als «Summer of Discontent» («Sommer der Unzufriedenheit») in die englischen Geschichtsbücher einging: Zwischen dem 3. und 11. Juli 1981 entluden sich Wut und Frustration über Armut, Arbeitslosigkeit und Polizeiwillkür. Zehntausende schwarze und weisse Jugendliche lieferten sich Strassenschlachten mit der Polizei. Während das offizielle Grossbritannien die Hochzeit von Diana Spencer und Prinz Charles im Sommer 1981 als die wichtigste Nachricht feierte, bahnte sich der Protest der Jugend seinen Weg von der Strasse in die Hitparade. Einen Tag nach dem Abflauen der Kämpfe klettere «Ghost Town» auf Platz eins der englischen Singlecharts und verkaufte sich eine Million mal. 

Passend zum düsteren Song fanden die Aufnahmen zum Musikvideo hauptsächlich im halb verkommenen Londoner East End, im Rotherhithe-Tunnel unter der Themse und in den menschenleeren Strassen des Finanzdistrikts statt. «Ghost Town» war die letzte Single der Specials in Originalbesetzung. Noch im gleichen Jahr lösten sie sich nach Unstimmigkeiten auf. Trotz der kurzen Wirkungsphase ist ihr Einfluss gross. Die sieben jungen Musiker ebneten den Weg für die multiethnische Musik in Grossbritannien.

39 Jahre nach ihrem letzten gemeinsamen Album legten 2019 drei der Gründungsmitglieder ein neues Specials-Album mit dem Titel «Encore» vor. Und wie vor 40 Jahren ist die Lage im Königreich dank Brexit erneut zerfahren.

© Claudia Herzog

Urs Musfeld

Urs Musfeld alias MUSI, Jahrgang 1952, war während 39 Jahren Musikredaktor bei Schweizer Radio SRF (DRS 2, DRS 3, DRS Virus und SRF 3) und dabei hauptsächlich für die Sendung «Sounds!» verantwortlich. Seine Neugier für Musik ausserhalb des Mainstreams ist auch nach Beendigung der Radio-Laufbahn nicht nur Beruf, sondern Berufung.  Auf seiner Website «MUSI-C» gibt’s wöchentlich Musik entdecken ohne Scheuklappen zu entdecken: https://www.musi-c.ch/

Weitere Songs und ihre Geschichten:

Beitrag vom 29.12.2020
Das könnte sie auch interessieren

Musik

«Il est cinq heures, Paris s’éveille» von Jacques Dutronc

Jacques Dutronc wird mit «Il est cinq heures, Paris s’éveille» über Frankreich hinaus bekannt. Mit einer Mischung aus Charme, Coolness und Schüchternheit wird er vom Teenie-Idol zum Grandseigneur des Pop.

Musik

«Sign o’ the times» von Prince

Prince, war einer der erfolgreichsten Popmusiker der Welt. Bereits mit 17 begann er seine Karriere – und wurde mit seinem androgynen Auftreten, seiner Sexyness und seiner Mischung aus schwarzen und weissen Musiktraditionen zum Idol. Mit dem Doppelalbum «1999» gelang ihm 1982 der Durchbruch.

Musik

«Winter» von Tori Amos

Tori Amos debütierte in den 1990ern mit Songs aus weiblicher Perspektive, wurde zur feministischen Ikone und erfand sich immer wieder neu. Zu ihren bekanntesten und beliebtesten Liedern zählen «Cornflake girl», «Winter» oder «Professional widow».

Musik

Alt, aber kein bisschen leise

Was beutet Älterwerden im Schweizer Rock- und Pop-Zirkus? Zwei junge Musiker erkundigten sich bei jenen, die es wissen müssen: den Pionieren der Branche. Entstanden ist daraus eine berührende Fernsehdokumentation.