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Schreibend dem Leben begegnen

In ihrer Schreibwoche in St. Moritz ermutigen die Schriftstellerin Tanja Kummer und die Autorin und Journalistin Andrea Keller dazu, den verschiedenen Facetten der eigenen Persönlichkeit und Geschichte nachzuspüren – mit dem Stift in der Hand.  

Interview: Claudia Herzog

Andrea Keller und Tanja Kummer, Sie sind überzeugt: Es lohnt sich, der eigenen Existenz schreibend zu begegnen. Warum?

Andrea Keller: Autobiografisches Schreiben kann sehr berührend sein, bewegend. Ich habe kürzlich einen Text über ein schönes Kindheitserlebnis verfasst, an das ich mich erinnere – und plötzlich war ich wieder fünf Jahre alt und tanzte im warmen Sommerregen. Es ist unglaublich zu wissen, dass ich solche «Anker» in mir finde, zu denen ich mich jederzeit zurückschreiben kann. Ich bin zudem überzeugt, dass uns das Schreiben auch hilft, das eigene Leben zu würdigen und Sinn zu finden.

«Das Schreiben hilft, das eigene Leben zu würdigen.»

Tanja Kummer: Und natürlich fördert Schreiben generell den Selbstausdruck, die Kommunikationsfähigkeit. Ich kann mich anderen gegenüber besser mitteilen, erzählen, wenn ich mich schreibend immer mal wieder auf den Punkt bringe, meine Person und Geschichte reflektiere.

Andrea Keller und Tanja Kummer © Claudia Herzog

Kann autobiografisches Schreiben auch als eine Art Fährtenlesen verstanden werden?

Andrea Keller: Unbedingt! Der Schreibende reist zurück in der Zeit und sucht in seiner Erinnerung nach Zeichen und Hinweisen: Wann habe ich mich für welchen Weg entschieden und warum? Was waren die inneren und äusseren Umstände, wer oder was hat mich geprägt, gelenkt? Lebe ich eigentlich die Geschichte, die ich von mir erzählen will?

«Die persönliche Geschichte in einer Form konservieren, die fassbar ist.»

Tanja Kummer: Oder sogar: Wer bin ich? Und wer bin ich auch? … Manche schreiben, um sich und das eigene Werden besser zu verstehen und gestärkt weiterzugehen. Andere schreiben über ihr Leben, weil sie Erinnerungen festhalten und vielleicht sogar Spuren hinterlassen wollen – beziehungsweise die persönliche Geschichte in einer Form konservieren, die fassbar ist. In einer Form, die tatsächlich weitergegeben werden kann. Den Kindern, den Enkeln.

Ihr leitet schon seit einigen Jahren Schreibkurse, habt auch kreatives und literarisches Schreiben unterrichtet und mit Armutsbetroffenen und Menschen, die an Krebs erkrankt sind, gearbeitet. Was habt ihr dabei für euch selbst mitgenommen?

Andrea Keller: Es hat sich für uns bestätigt, dass es heilsam sein kann, manche Dinge einfach mal aufs Papier zu stürzen. Schreiben kann einem ein neues Selbstbewusstsein geben – und zwar in dem Sinne, als dass man sich seiner Selbst besser bewusst wird, als auch im Sinne von Selbstvertrauen. 

Für wen kann autobiografisches Schreiben interessant sein?

Tanja Kummer: Für alle, die grundsätzlich Lust haben, das eigene Leben auch als Material zu betrachten, mit dem man arbeiten kann. Und für Menschen, die die Federführung über ihre Geschichte übernehmen wollen: Denn autobiografisches Schreiben ist ein aktiver, schöpferischer Prozess, bei dem man sich die Vergangenheit letztlich auch neu erfindet.

«Diese eine, unverrückbare Wahrheit gibt es nicht. Wahrheit ist immer Ansichtssache.»

Andrea Keller: Genau. Denn diese eine, unverrückbare Wahrheit gibt es nicht. Wahrheit ist immer Ansichtssache. Von Erich Kästner stammt der Satz «Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.» Wenn die Kindheit wirklich sehr schlimm war, dürfte das schwierig sein. Aber was stimmt: Nichts ist in Stein gemeisselt. Nicht die Zukunft, nicht die Vergangenheit.

Welches Vorgehen empfehlt ihr beim autobiografischen Schreiben?

Tanja Kummer: Ich würde empfehlen, sich für einen Schreibkurs anzumelden oder sich einer Schreibgruppe anzuschliessen. Im Schreibkurs erhält man auch wichtige Bausteine für autobiografische Texte oder Anregungen für die Konzeption einer Autobiografie. Die Erfahrung, in der Gruppe zu schreiben und das Vorlesen eigener Texte kann unglaublich stärkend und erweiternd sein. 

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Schreibkurs: DAS BIN ICH AUCH

21. August bis 28. August 2021
Hotel Laudinella, St. Moritz
Kursleitung: Tanja Kummer, Andrea Keller

Wer sind wir und wer sind wir auch? In diesem Schreibkurs geht es um die eigene Identität. Mit kreativen, kurzen und längeren Schreibübungen gehen wir dem nach, was alle von uns ausmacht. Wer waren wir, wer sind wir, wer werden wir künftig sein? Wir nehmen uns ernst – auf immer wieder humorvolle Weise. Wir erzählen uns und den anderen Schreibenden von uns und aus unserem Leben. Die Kursleiterinnen bringen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten näher und stellen Bausteine für interessante Texte vor. Weiter Informationen finden Sie hier.

Andrea Keller, Thalwil/Winterthur

Seit einigen Jahren als Journalistin und Leiterin von Schreibkursen tätig, Autorin («Guten Tag, haben Sie mein Glück gefunden?») sowie Kulturschaffende. Sie findet es faszinierend, wie sich «mit dem Stift in der Hand» immer wieder neue Welten auftun, und das nicht nur in einem literarisch-fantastischen Sinne, sondern auch ganz lebensnah für sich selbst. www.kreativ-komplizin.com

Tanja Kummer, Zürich

Buchhändlerin, eidg. dipl. Erwachsenenbilderin und Schriftstellerin. Bisher veröffentlichte sie neun Bücher, darunter das Bilderbuch «Anna und die Nacht» (Baeschlin-Verlag, mit Illustrationen von Daniela Rütimann). Sie schreibt für Kinder und Erwachsene und unterrichtet mit dem Schwerpunkt kreatives und autobiographisches Schreiben. Ihre Arbeit wurde mit diversen Preisen und Werkbeiträgen ausgezeichnet. www.tanjakummer.ch

Beitrag vom 15.03.2020
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